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Indiecade 2010

Von Atari 2600 bis iPad

Viermal wundern

Alle bisherigen Gewinner sind einigermaßen leicht nachzuvollziehen. Vier Projekte, die gewonnen haben, sind dagegen jeweils deutlich kurioser als der durchschnittliche Aprilscherz. Alle scheinen aber mehr oder weniger Ernst gemeint zu sein. Jedes von Ihnen verdient Aufmerksamkeit, ist aber nur für ein kleines Publikum interessant.

The Games of Nonchalance

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Ein Alternate Reality Game (ARG), das in San Francisco spielt, kann bei deutschen Lesern höchstens Neid auslösen. Anders als bei den verbreiteten, abgeschmackten Werbekampagnen hat sich hier eine Künstlergruppe einen Plot um beknackte New-Age-Aktivisten und ihre Gegenbewegungen ausgedacht. Klingt spannend, findet aber leider nur in San Francisco statt. Als Trostpflaster empfehle ich den YouTube-Kanal des fiktiven Jejune Institute.

The Cat and the Coup

Geh nicht durch die Tür!

Plattform: PC, Mac

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Auch die Katze des ersten demokratisch gewählten iranischen Permierministers Mohammed Mossadegh konnte dessen Sturz nicht verhindern. In The Cat and The Coup springt sie ihn an, bringt ihn aus dem Gleichgewicht und seift die rettende Hand mit Öl ein. Der Gewinner in der Kategorie Documentary Games ist ein Lernspiel, das eine wichtige Episode iranischer (und globaler) Politik neu beleuchtet. Statt endlosen Erklärungen bietet The Cat and The Coup ein kompaktes Set spielend durchquerbarer, persischer Miniaturmalereien mit kleinen Texttafeln. Wer sich nicht für Geschichte interessiert, wird von den kleinen Minispielen auch nicht bekehrt werden. Aber der spielbare Perserteppich, auf dem Mossadeqs Katze den Premier von Episode zu Episode scheucht, ist doch mehr als eine aufgeblasene Power-Point-Präsentation. In kurzen, interaktiven Übungen begegnet man den Stichpunkten nicht einfach. Man interagiert mit ihnen und bekommt Anhaltspunkte geliefert, warum man sich für Mossadegh interessieren sollte. The Cat and The Coup ist keine Konkurrenz für unterhaltsame Spiele -- sehr wohl aber für öde Unterrichtsstunden.

A Slow Year

Herbst: Ein Baum

Plattform: PC, Mac, Atari 2600

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Ein Spiel für den Atari 2600 gewinnt 2010 einen Preis in einem Wettbewerb. Damit nicht genug: A Slow Year ist ein interaktives Gedicht, dass die vier Jahreszeiten als simple Mini-Spiele präsentiert, die man durch methodische Eingaben absolviert. Zu verschiedenen Jahreszeiten sitzt man minutenlang da, beobachtet, wartet ab, trinkt Kaffee oder blinzelt, während man auf minimalistische Grafik auf dem technischen Stand von 1977 starrt. Lässt man sich darauf ein, prasselt tatsächlich ein Gewitter über den Bildschirm, oder die Sonne geht auf. Statt Spieler mit einer geschwätzigen Welt zu erschlagen, setzt A Slow Year auf technische Reduktion und überlässt die Arbeit dem menschlichen Interpretations- und Vorstellungsvermögen. Dem fertigen Spiel liegt ein kleines Buch bei; Haiku erklären die Regeln, ein Essay beleuchtet Zusammenhänge zwischen Poesie und Videospielen.

Groping in the Dark

Der Blick in den Abgrund.

Plattform: PC

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Den Preis der Jury gewinnt Groping in the Dark mit einer der verstörendsten Erfahrungen, die ich je gespielt habe. Entwickelt werden die vier Episoden in Korea. In der ersten, A Girl Kidnapped, tastet man sich mit dem Mauszeiger durch den inneren Monolog eines verzweifelten Mädchens, das benommen aufwacht und nicht weiß, wo es ist.

Auf dem Bildschirm erscheinen wirklich koreanische Schriftzeichen, die man wegradiert, schüttelt und entlangfährt, um die Gedanken voranzutreiben. Mit Untertiteln wird das Ganze auch für mich spielbar, aber ganz offensichtlich geht so die direkte Verbindung zum Text verloren, der sich über den Bildschirm windet, ineinander verschränkt, in den Fokus rückt und wieder verschwimmt. Trotzdem schüttele ich panisch die Maus hin und her, als ich Angst vor dem Einschlafen bekomme. Der Schreibtisch wackelt -- die stärkste Reaktion, die ein Kandidat der Indiecade bei mir hervorgerufen hat. Ich bin gespannt auf das fertige Spiel und hoffe auf eine vollwertige Übersetzung in eine Sprache, die ich verstehe.

Bewusstseinserweiternd

Fröhliche Retrotitel auf neuen Plattformen brauchen vielleicht gar keine Werbung oder Auszeichnungen, um ihr Publikum zu finden. Aber es ist wichtig, dass auch Spiele gefördert werden, die kein großes Publikum anpeilen.

Viele der Gewinner dürften mehrheitlich eher Irritation als Begeisterung auslösen. Aber darum geht es gerade. Die Indiecade kann uns daran erinnern, dass es kein Naturgesetz gibt, dass die Grenzen des Gamings zusammenhält. Jede Innovation öffnet neue kreative Möglichkeiten. Und die können auch in den Mainstream durchsickern. Eine Bereicherung kann auch etwas sein, das man nicht selber spielen will. Und es gibt durchaus Menschen, die sich für Poesie und iranische Geschichte interessieren.

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Über den Autor

Jan Bojaryn

Contributor

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