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The Walking Dead: Ein Hoch auf die Illusion der Entscheidungsfreiheit.

Warum das beste Adventure der letzten Jahre doch fast alles richtig macht.

Am 10. Mai erscheint Telltales erste Staffel von The Walking Dead als Ladenversion. Diese Ausgabe enthält deutsche Bildschirmtexte. Dieser Artikel ist nicht als Test zu verstehen, die Kritiken zu den einzelnen Episoden findet ihr an dieser Stelle.

"Gewinner von über 80 Game of the Year Awards" steht groß auf der Schachtel, in der Telltales großes apokalyptisches Abenteuer The Walking Dead endlich seinen Weg in die Läden findet. Kaum zu glauben, dass es schon ein halbes Jahr her ist, dass man den Abspann nur noch durch einen verheulten Schleier vom oberen Bildschirmrand herabregnen sah. Und obwohl eine ganze Menge Magazine und Blogs dem größten Download-Erfolg des letzten Jahres ihr Krönchen aufsetzten - auch ihr wähltet den Titel im letzten Jahr auf Platz 2 der Eurogamer-Top 50 -, gibt es genug Leute, die ihm bis heute nichts abgewinnen können.

Daran wird auch die Veröffentlichung über den traditionellen Weg wohl nichts ändern und doch genügt es mir als Anlass, noch einmal über die zentralen Kritikpunkte derjenigen zu sprechen, die The Walking Dead für einen überbewerteten Motion Comic halten. Am häufigsten geschimpft wurde sicher über die Entscheidungsfreiheit beziehungsweise die Konsequenzen der Entscheidungen, die der Spieler im Verlauf der fünf Episoden zu treffen hat. Vielen gingen sie nicht wenig genug. Unbestreitbar haben des Spielers Aktionen nur in wenigen Fällen schwerwiegende Folgen für den weiteren Verlauf der eigentlichen Handlung. Diese Beschwerde zielt jedoch zum einen daneben und ignoriert zum anderen nicht unerhebliche Realitäten der Spielentwicklung.

'Sie verstehen mich völlig miss ...'

Dabei gerät komplett aus den Augen, dass kein Entwicklungsstudio der Welt über die Ressourcen verfügt, auf jede Entscheidung des Spielers eine nachhaltige und befriedigende Antwort zu haben. Man denke nur an Mass Effect, das mit jedem neuen Teil auf so viele Eventualitäten reagieren musste, dass teilweise nur entsprechend andere Namen und beiläufige Schriftstücke in das Folgespiel integriert wurden. Und weiß noch einer wie das in ME3 mit der Rachni-Queen war, wenn man sie im Debüt der Reihe erledigt hatte? Eben!

Lee und Clementine sind das beste Duo der Spielegeschichte. Nach Toejam & Earl natürlich.

Und das ist auch einfach nicht der Punkt. Tatsächlich kommt es in dieser Sorte Entscheidungs-Spiel zu keinem Zeitpunkt wirklich darauf an, wie viele Ausgänge faktisch möglich sind. Anders herum wird ein Schuh draus: Es ist wichtiger, dass das Spiel seinem User überzeugend vorgaukelt, dass dem so sei. In dieser Hinsicht ist The Walking Dead ein voller Erfolg. Ein Blick in beliebige Spiele-Diskussionsforen genügt. Die Leute tauschen sich aus, sagen, sie hätten an einer bestimmten Stelle dieses oder jenes gemacht und brennen darauf, zu wissen, was passiert wäre, wenn sie sich für die andere Option entschieden hätten. Sie glauben die Illusion der Entscheidungsfreiheit, weil Telltale sie gut verkauft. Jede Zeile Dialog, die darauf abzielt und ja, sogar die Behauptung einer "tailored experience" sind Teil eines vielleicht aus der Not geborenen, aber nichtsdestotrotz grandiosen Zaubertricks, den die Autoren hier abbrennen. Aber es ist eben auch nur ein Trick - und die sind naturgemäß nur so lange gut, wie man ahnungslos ist, wie sie funktionieren.

Vereinzelte Szenen noch einmal zu spielen, um zu schauen, wo "geflunkert" wurde, damit diese Illusion überhaupt erst möglich wurde, tut dem Spiel in höchstem Maße unrecht. Fast, als würde man die Bühne der Zaubervorstellung stürmen, die einen gerade noch so verblüffte, den selbstverständlich im Zylinder verbauten doppelten Boden mit dem Kaninchen darunter finden und sich dann beschweren, dass es ja eigentlich doch ganz einfach war. Und dann wäre ja noch der Irrtum, dass unzählige mögliche Ausgänge auch automatisch das Spielerlebnis verbesserten. Ein dermaßen handlungsgetriebener Titel braucht aber ein erzählerisches Rückgrat, mit einem Spannungsbogen, einem Anfang, einer Mitte und einem Ende, wenn er die angepeilte Wirkung auch erzielen will.

Augen auf!

Und dann steht da immer noch die Frage im Raum, ob es überhaupt stimmt, dass die Folgen eurer Entscheidungen nicht schwer genug wiegen. Ist es etwa keine schwerwiegende Konsequenz, durch Antworten und Aktionen einen wichtigen Nebencharakter entweder als besten Freund zu gewinnen oder sich zum Feind zu machen? Ist es keine schwerwiegende Entscheidung, vor den Augen eines Kindes mit den bloßen Händen ein Menschenleben zu nehmen, um dem verängstigten Mädchen anschließend zu erklären, was nicht zu erklären ist? Ist es wirklich egal, jemanden, dessen treudoofe Tollpatschigkeit die Gruppe gefährdet, in den Tod stürzen zu lassen oder nicht? Vielleicht nicht für den zentralen Handlungsbogen, der in geregelten Bahnen auf jeden Fall sein erschütterndes Ende nimmt. Aber ihr formt nachhaltig die Figur Lees, rollenspielt euch als nervös raschelndes Bündel aus Gewissensbissen von einer Episode zur nächsten und erlebt auf diese Weise das Spiel zu vielen Gelegenheiten fundamental unterschiedlich. Es sind kleine, aber spürbare Narben, die The Walking Dead auf eurem Gewissen hinterlässt.

Die fünf Episoden sind für gut zehn bis zwölf Stunden Spiel gut.

Über den gefühlten Mangel an echten Rätseln will ich an dieser Stelle gar nicht zu viele Worte verlieren. Wenn man mal ehrlich ist, hat man Adventures nie wegen der abstrusen Inventar-Klickereien gespielt oder weil man scharf darauf war, jeden Gegenstand im Spiel an jedem anderen zu reiben. Man spielte es, weil es das Genre war, das die besten Geschichten erzählte. Das verstanden viele Studios der letzten 15 Jahre falsch, während sie sich auf das "Guybrushen" besonnen, also sich neu(rotisch)e Helden mit schrägen Gimmicks ausdachten und sich "Rätsel" der Marke "kombiniere geflohenes Suppenhuhn mit Baumharz und Pool-Queue" einfallen ließen. The Walking Dead geht in dieser Hinsicht zurück zu den Wurzeln, ist Erzählung pur und erfordert nur die logischsten Interaktionen mit der Umgebung. Es gibt nicht einmal ein Inventar.

Dennoch kann man sicherlich darüber reden, ob Telltale dem Spieler an gewissen Stellen nicht vielleicht doch ruhig etwas mehr hätte zutrauen dürfen, keine Frage. Ich bin nur froh, dass sie es nicht auf die Art angegangen sind, durch die die Adventures über die letzten zweieinhalb Hardwaregenerationen hinweg zu einer aussterbenden Gattung wurden. Und wenn man sich die Ereignisdichte der Geschichte so anschaut, sich vor Augen hält, woran man die meiste Zeit emotional schon zu knabbern hat, ist der Fokus auf schnelle Bauchentscheidungen ein echter Bonus. Man ist fast dankbar dafür, dass man nie zu lange an einer Sache festhängt.

Wie auch immer ihr dazu steht - bitte, fühlt euch in den Kommentaren ganz wie zu Hause - The Walking Dead ist in jedem Fall ein bemerkenswertes Spiel und eines, dem man jetzt sogar den Ehrenplatz im Games-Regal angedeihen lassen kann, der ihm gebührt. Telltale hat hiermit mehr für das Adventure-Genre getan, als ich je für möglich gehalten hätte und es wird schwer sein, das mit der zweiten Staffel zu toppen. Schön, dass sie es trotzdem versuchen. Alles Gute, Telltale!

In diesem artikel

The Walking Dead

Android, iOS, PS3, Xbox 360, PlayStation Vita, PC

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Über den Autor
Alexander Bohn-Elias Avatar

Alexander Bohn-Elias

Stellv. Chefredakteur

Alex schreibt seit über 20 Jahren über Spiele und war von Beginn an bei Eurogamer.de dabei. Er mag Highsmith-Romane, seinen Amiga 1200 und Tier-Dokus ohne Vögel.

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