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Child of Light - wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

Ein Indie-Japanrollenspiel von einem kanadischen Mega-Entwickler?

Es gibt kein deutsches Wort für "bucket list". Die naheste Entsprechung wäre wohl "Dinge, die man gemacht haben will, bevor man stirbt" und sie geht nicht annähernd so klangvoll von der Zunge. Der Begriff fällt immer wieder, als wir den Creative-Director von Child of Light, Patrick Plourde, und den Lead Author , Jeffrey Yohalem, in Hamburg treffen, um das rundenbasierte Rollenspiel nach japanischer Machart zum ersten Mal in Augenschein zu nehmen. Schon bevor er Ubisoft seine Vision für Child of Light schilderte, warnte Plourde das Management, dass es sich bei seinem Pitch um keinen kommerziellen Riesen wie Assassin's Creed oder Far Cry handeln würde - Marken, an denen er zuvor maßgeblich beteiligt war.

"Ich wollte etwas komplett anderes machen, weil ich es für Kreative wichtig finde, sich nicht zu wiederholen", erklärt der Franko-Kanadier. "Ehrlich gesagt liebe ich einfach japanische Rollenspiele wie Final Fantasy und Grandia oder alles, was Matsuno-san (Tactics Ogre) so gemacht hat. Für mich ist das ein Punkt auf meiner persönlichen 'bucket list' [lacht]." Jeffrey Yohalem, der cum laude in Yale Literatur studierte und nach den Geschichten diverser Assassin's Creeds und des letzten Far Cry nun sein erstes Fantasy-Universum erdenkt , bringt dieselbe Leidenschaft auf: "Ich habe mein ganzes Leben darauf gewartet, eine Welt wie diese zu erschaffen."

Zehn bis 15 Stunden Freizeit solltet ihr aufbringen, wenn ihr das Child of Light ans Ende seines Abenteuers begleiten wollt.

"Als Kind waren meine Lieblingsbücher Der Zauberer von Oz, Die Chroniken von Narnia, His Dark Materials und Der Herr der Ringe", erinnert er sich. "Auch die Werke des weniger bekannten Edward Eager haben mich begeistert, in denen er all diese wundervollen, magischen Reiche erschuf. Die Idee eines Kindes unserer Welt, das über dieses gewaltige Geheimnis unter der Oberfläche stolpert, übt auf mich eine große Faszination aus." Plourde bringt eine weitere Inspiration ins Rennen: Konzeptmalereien der Werke eines weltweit hochgeschätzten Anime-Regisseurs. "Ich habe die Artbooks diverser Hayao-Miyazaki-Filme förmlich verschlungen, all diese wasserfarbenen Storyboards vermitteln das Gefühl einer Welt, die es immer noch gibt. Wir haben nur vergessen, wo die Türen sind."

In Child of Light öffnet die kleine Prinzessin Aurora eine dieser Türen, nachdem sie bereits in der Einleitung ihr Leben lässt. Es ist ein düsteres, handgemaltes Reich voller tiefer Schatten und unwirklicher Horizonte, das bei allen Inspirationen aus dem Fernen Osten urig-europäisch wirkt. Sowohl die Texte der sonoren, weiblichen Erzählerin als auch die Dialogtafeln der Figuren sind in Reimform verfasst, was den märchenhaften Charakter dieses pastellfarbenen Nachlebens noch unterstreicht. Mit ihrem roten wallenden Haar bewegt sich Aurora nach Tradition eines simplen 2D-Hüpfspiels durch eine große, aber übersichtliche Welt weniger Abzweigungen, während ihr leuchtender Glühwürmchen-Sidekick Igniculus mit dem rechten Stick oder per Touchpad separat gesteuert wird.

Hier und da bringt er auf Tastendruck Licht ins Dunkel, erhellt so versteckte Pfade oder blendet die jederzeit auf dem Bildschirm sichtbaren Gegner so, dass ihr ihnen ausweichen beziehungsweise für einen Initiativangriff in den Rücken fallen könnt. Es ist insgesamt ein Schema, dem zuletzt auch South Park: The Stick of Truth ein wenig glich, auch wenn das natürlich keine Hüpfelemente hatte und man dort hier und da die Tiefe des Bildschirms ergründen konnte. Child of Light bringt dafür mehr Umgebungsrätsel ein, wenn Aurora und Igniculus bestimmte Lichtmuster an Wände im Hintergrund projizieren oder Aufzugpuzzles lösen.

"Wer den Rhythmus dieser Kämpfe durchschaut, bekommt es hin, fast immer die Initiative zu behalten, und wird auch mächtigeren Feinden Herr."

Die Ubiart-Engine ließ schon in Rayman Legends und Origins Herzen höher schlagen.

Hüben wie drüben finden die eigentlichen Kämpfe in rundenbasierter Abfolge statt, bei der Timing eine entscheidende Rolle spielt. In South Park sind exakt getimte Tastendrücke vonnöten, in Child of Light visualisiert eine Zeitleiste am unteren Bildrand die Reihenfolge, in der sowohl die Mitglieder der zweiköpfigen Heldenparty als auch die Feinde angreifen können. Spannend wird das dadurch, dass das letzte, rot gekennzeichnete Fünftel der Leiste die Vorbereitungszeit für die gewählte Aktion darstellt. Zauber, Attacken oder die Benutzung von Gegenständen brauchen in ihrer Vorbereitung unterschiedlich lange - sprich, das Symbol der Figur erreicht das Ende des Balkens bei schneller Attacke früher als jemand, der einen mächtigeren Move ausführen will. Fährt einem jemand in diesem Zeitraum mit einer Attacke dazwischen, wird die aktuell vorbereitete Aktion unterbrochen und die Figur auf der Zeitleiste ein ganzes Stück weit zurückgesetzt. Man stellt sich also wieder hinten an und kommt nicht so schnell zum Zug, wie man gedacht hätte.

Das ist eine Regel, an die sich beide Seiten halten müssen und die der Spieler ausnutzt. Wer den Rhythmus dieser Kämpfe durchschaut, bekommt es hin, fast immer die Initiative zu behalten, und wird auch mächtigeren Feinden Herr. Zudem kommt auch hier wieder der Glühwurm Igniculus ins Spiel, der alternativ von einem zweiten Spieler gesteuert werden darf. So sind zum Beispiel auf dem Bildschirm Wunschblumen verteilt, die er zum Erblühen bringen kann und deren Knospen Auroras Lebens- und Magiepunkte wieder aufladen. Ist er damit beschäftigt, kann er seine andere, wichtigere Fähigkeit nicht wirken, nämlich das Blenden der Feinde.

Welchen Gegner auch immer er mit seiner beschränkt vorhandenen Strahlkraft aus dem Konzept bringt: Das Opfer schreitet auf der Zeitleiste deutlich langsamer zum Aktionsbereich voran, wodurch ihr den Rhythmus zugunsten eurer Party beeinflussen könnt. Es entsteht ein kluges Tauziehen darum, am Drücker zu sein, bei dem man sich stets zwischen dem möglichen Verlust der Initiative und der freien Entfaltung seiner Möglichkeiten entscheiden muss. Eine interessante Zwickmühle. Weitere Spieltiefe soll das Kampfsystem dadurch gewinnen, dass man die bis zu acht zusätzlichen Freunde, die man für seine Party gewinnen kann, auch im laufenden Gefecht noch tauschen kann.

"Es ist ein sehr sympathischer Ansatz und trotz des spürbar durch JRPGs angeregten Aufbaus sehr eigenständig und involvierend."

Die deutsche Übersetzung ist im Rahmen der Möglichkeiten gut gelungen. Die lyrische Textform dürfte aber im Original mehr Zauber versprühen.

Andere Spiele sind in dieser Hinsicht deutlich restriktiver und machen einem eine lange Nase, wenn man mit der falschen Party-Zusammensetzung in einen harten Kampf geht. Patrick Plourde will dadurch eher den Spieltrieb seines Gastes anregen: "Das System ist so aufgestellt, dass die Leute sich ermutigt fühlen, mit anderen Teamzusammensetzungen zu experimentieren und die Möglichkeiten zu entdecken. Eine besondere Komplexität kommt hinzu, wenn man beginnt, die Charaktere nach Stufenaufstiegen auf bestimmte Spielweisen zu spezialisieren und je nach Situation den passenden Partner ins Gefecht zu beschwören. So legt man sich dann Taktiken zurecht, die vier, fünf oder sechs Charaktere umfassen. Das ist der Bereich, wo für mich das Spiel wirklich interessant wird."

Es ist ein sehr sympathischer Ansatz und trotz des spürbar durch JRPGs angeregten Aufbaus sehr eigenständig und involvierend. Die ersten zwei Stunden, die ich ausprobieren konnte, verliefen auf dem normalen Schwierigkeitsgrad jedoch alles andere als knifflig. Damit das System seine Qualitäten aber voll ausspielen kann, sollten Enthusiasten vielleicht die höhere Einstellung wählen. Ein Ratschlag, der schon bei South Park durchaus sinnstiftend war. Ich persönlich würde mir ungern die ausgeklügelten Systeme verleiden, nur weil der Begriff eines "normalen" Schwierigkeitsgrades sich mittlerweile verschoben hat.

Zurück im Jenseits von Lemuria dauert es nicht lange, bis Aurora die Fähigkeit erhält, die 2D-Passagen auch im Feenflug zu absolvieren. Hier kommt die traumhafte Gestaltung dann zur vollen Entfaltung, wenn man zusammen mit Igniculus versteckte Passagen und uralte Schatztruhen freilegt, die sogenannte Oculi ausspucken. Diese sind die Basis eines simplen Crafting-Systems, um die Ausrüstung der Truppe mit Status- oder Elementareffekten zu versehen. Simpel, flott, aber doch wertvoll, wenn es darum geht, dem Spieler ein Ventil zur Entfaltung zu geben.

Die Umgebungsrätsel drehten sich bisher vornehmlich darum, am rechten Fleck Licht zu stiften.

Und warum auch nicht, denn darum ging es Plourde und Yohalem letzten Endes auch, als sie für Ubisoft das Abenteuer Child of Light begannen. Zur geschäftigsten Zeit arbeiteten gerade 40 Mitarbeiter an dem Titel, und auch das kam laut Plourde nur dadurch zustande, dass dieser Feenzauber auf sechs Plattformen und noch dazu weltweit am selben Tag erscheinen sollte. Es spricht für Ubisoft, selbst vergleichsweise namhaften Kreativen wie diesen beiden zwei Jahre Zeit zu geben, ihren Traum zu verwirklichen. "Weniger Leute, weniger Meetings, flachere Organisationsstruktur", schwärmt Plourde . "Hätte man vor zwei Jahren jemand aus diesem Team ausgewechselt, das Spiel sähe heute ganz anders aus. Das fördert den Teamgeist, jeder hier ist stolz auf Child of Light". "Abgesehen davon, dass Patrick mir Notizen zu meinem Skript gab, kam niemand vom Management oder von sonst wo zu mir und trug mir irgendetwas auf", so Yohalem über die vergangenen 24 Monate. "Es war wirklich wie die Produktion eines Indie-Spiels innerhalb Ubisofts, bei der man uns ermutigte, als Kreative komplett selbstständig zu wirken."

Schon wegen des Versuchs mag man eigentlich nur den Hut ziehen. Er zeichnet das Bild eines Publishers, der aus der spannendsten Entwicklung der letzten Jahre - dem Erfolg der kleinen, kreativen Spiele - gelernt hat. Ubisoft paart diesen Erkenntnisgewinn mit der gewaltigen Professionalität, die ein Tausende Angestellte großes Unternehmen so mit sich bringt. Die Produktion ist folgerichtig überaus hochwertig und die Ubiart-Engine, die Konzeptzeichnungen in bisher ungesehenem Maße Leben einhaucht, kann man nicht oft genug in Aktion sehen. Dass hierfür ungeachtet der Plattform nur 15 Euro veranschlagt werden, dürfte nicht nur mich überrascht haben.

Wie Auroras Geschichte auch ausgehen mag, von ihrer persönlichen "bucket list" können Plourde und Yohalem den Punkt "JRPG" meinetwegen schon jetzt gerne streichen. Wir sehen dann Ende April, ob sie sich auch noch ein Sternchen daneben machen dürfen.

In diesem artikel

Child of Light

PS4, Xbox One, PS3, Xbox 360, PlayStation Vita, Nintendo Wii U, PC, Nintendo Switch

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Alexander Bohn-Elias Avatar

Alexander Bohn-Elias

Stellv. Chefredakteur

Alex schreibt seit über 20 Jahren über Spiele und war von Beginn an bei Eurogamer.de dabei. Er mag Highsmith-Romane, seinen Amiga 1200 und Tier-Dokus ohne Vögel.

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