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Torment: Tides of Numenera - So zugänglich wie erwartet...

Bahnhof? Keine Sorge, das geht vorbei.

Torment: Tides of Numenera schmeißt euch in sein Setting hinein, wortwörtlich. Weil ihr nämlich aus stratosphärischer Höhe nach unten fallt, was auch immer dieses Unten sein mag, begleitet von einer cool klingenden Erzählerstimme, die ab sofort jedes Spiel haben sollte. Was folgt, ist eine spielbare Charaktererstellung im Unterbewusstsein eurer Figur, völlig unvermittelt und rücksichtslos Lore abladend. Bevor man die eigentliche Spielwelt erreicht und sein Tempo finden kann, erfährt man von den "Sorrow", einer Art uralter Wächter-Entität, den "Sorrow fragments", den namensgebenden "Tides" der Welt Numenera, dem "Changing God" und einer "Resonance Chamber".

Man hört von jemand einst sicher tierisch Wichtigem namens Sekin Vandars, hat schräge Visionen, kann sich darin Würmer durch die Nase ziehen und verlorene, bildlich beschriebene Erinnerungen von wer weiß wann nachleben. All das in weniger als eine Stunde gepresst und mit durchaus guten, Adjektiv-versessenen englischen Texten, bei denen man auf die deutsche Übersetzung sehr gespannt sein darf. Das hier ist sprachlich dann doch eine Ecke weiter als Wasteland, Divinity und Co.

Einstieg mit Amnesie und Informationsüberfrachtung. Ihr müsst Entscheidungen treffen, um die Ausrichtung eures Charakters festzulegen, ohne einen Hauch von Kontext, während das Spiel seine Texte unbeirrt durchzieht. Falls ihr Numenera nicht schon vor Spielstart kennt und euch das zu viel ist: ging mir ähnlich. Einfach noch mal anfangen und keine Sorge, nach dem Einstieg wird es sehr viel ruhiger.

Werfen wir als Kontrast mal einen Blick auf Planescape Torment, dem Tides of Numenera ein geistiger Nachfolger sein möchte. Man erwacht in einer Leichenhalle, nackt, ohne Gedächtnis und mit tätowiertem Tagebucheintrag auf dem Rücken. Dazu ein fliegender Totenschädel, der die Notizen vom Rücken abliest, und die daraus resultierende Zielsetzung: Finde Pharod. Das ist ein sehr spannender und vergleichsweise reduzierter Ansatz, in Sachen Textmenge nicht mal unbedingt weniger - spätestens wenn man den Schriftgelehrten Dhall trifft -, aber verständlicher, geheimnisvoller und neugieriger machend.

Planescape schleppte sein Mysterium mit durch die Gassen der Stadt Sigil, ob diese nun gerade Nachwuchs bekamen oder nicht. Es führte mit dem Szenario Unvertraute behutsamer in seine Welt weit, weit draußen ein, Tides of Numenera stopft euch quasi durch den Kamin und plappert dann erst einmal vor sich her. Bevor man weiß, wer man überhaupt ist, rennt man durch ein futuristisches Labor, liest Beschreibungen kryptischer Apparaturen und hat Schattenmonster am Hals, die eine Dringlichkeit vorgeben - und dabei übers Ziel hinausschießen. Trotzdem eine an sich nette Prämisse für eine Charaktererstellung. Nichts, was man jeden Tag in CRPGs durchlebt, und auf den ersten Blick eine wirre Angelegenheit ohne konkrete Einordnung von Ort und Geschehnissen. Jedenfalls wenn man das Numenera-Universum nicht schon vorher kannte.

Die Rundenkämpfe laufen in der Beta noch stotternd, sind aber auch nur ein Weg zur Problemlösung. Torment: ToN hat viele dialogische Skill-Checks, mit denen man gewaltsame Auseinandersetzungen bereits im Keim ersticken kann. Besonders viele Kämpfe gibt es ohnehin nicht.

Das Schöne ist, dass es ab der Stadt Saugus Cliffs, wo man ins eigentliche Spiel einsteigt, einen Gang runterschaltet und euch die Führung übergibt. Ihr betretet eine Erde Milliarden Jahre in der Zukunft. Die Menschen leben im Glauben, vor ihnen kamen und gingen acht große Zivilisationen, weshalb die Erde in Numenera als die "Neunte Welt" bekannt ist. Auf den ersten Blick auf einem mittelalterlichen technologischen Stand verhaftet, von Kampfaxt bis Großschwert, findet man überall Spuren des Fortschritts in den Bereichen Bio- und Nanotechnologie, im stellaren und sogar interdimensionalen Reisen. Manche Geräte auf den Straßen bestehen aus mehr als zwanzig verschiedenen Technologien. Es gibt Brunnen gefüllt mit einer Fischmasse, Jallys genannt, die sämtliche im Laufe der Jahrmilliarden vergessenen Sprachen wild durcheinander sprechen. Jedes Mal, wenn eine bestehende Sprache stirbt, kommt ein Jally dazu.

Wo Sigil in Planescape Torment eine rottende, verkommene Seite zeigte, ist Saugus Cliffs ein hellerer, pulsierender Ort. Mit fünf Stadtvierteln ist es ein guter Einstieg in ein solches Science-Fantasy-Setting. Seine Architektur erzählt von verlorenen Wundern und fremdartigen Überbleibseln einer auf Kante hängenden Welt, in der mich jede Straße, jedes neue Gebäude neugieriger machte. Zum einen natürlich, weil inhaltlich Schrägeres und Überraschenderes möglich ist als in einem enger gefassten Szenario, zum anderen, weil InXile eine riesige Freude verspürte, die Welt über Dialoge und Beschreibungen sprechen zu lassen. Kurzum: Es gibt eine ganze Menge Text, mehr als in Pillars of Eternity zum Beispiel.

Das Design späterer Abschnitte - hier: The Bloom - verspricht noch weitaus Abgefahreneres, als es Saugus Cliffs in der Beta andeutet. Man darf nach diesem gelungenen Einstieg ehrlich gespannt sein, wie ideenreich InXile das Setting im weiteren Spielverlauf nutzt.

Hatte Obsidians Baldur's-Gate-Hommage letztlich doch recht leere Straßen mit zu viel Backer-Fan-Fiction und zu wenigen Gesprächspartnern mit einfach nur einem Schwung zu erzählen, ist Tides of Numenera voll davon. Soweit Saugus Cliffs repräsentativ für den Rest ist. Statt die größte Menge an Stadtvolk mit Bezeichnungen wie "Bürger" abzugrenzen - klar gibt es auch solche -, trefft ihr hier nicht wenige, die euch gern an einem Ausschnitt ihres Lebens teilhaben lassen. Es muss nicht immer eine Quest am Ende herausspringen, oft jedoch eine Erzählung über Land und Leute, was die Erkundung der Stadt vor dem großen Hintergrund organischer und ereignisreicher erscheinen lässt.

Nach und nach entsteht so ein Bild, das zu vertiefen von eurem Lesevermögen abhängt, aber deswegen spielt man ja so etwas, nicht wahr? Bedenkt, dass sich anhand der Beta nicht viel über den Verlauf der Haupthandlung oder darüber sagen lässt, ob und wie clever Numenera das Gefühl einer grenzenlosen Welt jenseits üblicher RPG-Muster aufrechterhalten kann. Etwas, worin Planescape Torment bis zum Ende nicht enttäuschte. Saugus Cliffs scheint jedenfalls ein angemessener Einstieg, ohne die WTF-Dichte der Leichenhalle des großen Vorbilds zu erreichen.

Dafür zeigt es euch einen Verurteilten, dessen Albträume sich in Form von Eingeweiden manifestieren, die sich um ihn schlingen und zu Tode drücken. Eine eurer Begleiterinnen ist ständig umgeben von Echos ihrer selbst aus Parallelwelten, die im späteren Verlauf hoffentlich an Bedeutung gewinnen. Wenn Numenera eins bisher richtig gut beherrscht, ist es das Gespür, die Interaktion mit Umgebung und Charakteren in greifbare Szenen zu packen. Es ist nicht nur erstaunlich, wie bildlich man Unebenheiten auf einer Gebäudewand oder einen verächtlich ausspuckenden Gesprächspartner beschreiben kann, wenn dieser gerade Leine zieht. Auch die erlebten Geschichten sind durch die Bank interessant.

Sie erzählen von Batterien futternden, an der Oberfläche gestrandeten Untergrundmonstern, die unverhofft Hilfe von Waisenkindern bekommen, oder von einem Roboter, der seine Energieversorgung zugunsten des Lebens seiner "Kinder" umleiten möchte. Ein kleiner Plot menschlicher Wärme, wo eigentlich nur Drähte und Metallplatten sind. Diese Spannbreite, so viel kann man jetzt schon sagen, ist die große Stärke von Tides of Numenera. Man kann nicht wissen oder ahnen, was hinter der nächsten Tür wartet, anders als im alltäglichen RPG-Szenario mit seinen Goblins, Drachen und der bequemen Rollenverteilung. Ob InXile das halten, sich gar steigern oder die philosophische Tiefe des Spiels erreichen kann, dem sie hier die Ehre erweisen, wer weiß das schon. Allein für den an Wahnsinn grenzenden Versuch und die vielen guten Ansätze in der Beta darf man sich ihnen verbunden fühlen.

In diesem artikel

Planescape Torment

PC

Torment: Tides of Numenera

PS4, Xbox One, PC, Mac

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Sebastian Thor

Freier Redakteur - Eurogamer.de

Steht auf Bier und Bloodsport. Mag weiche Sofas und verliert sich gern in Gedanken an dies und das. Seit 2014 bei Eurogamer dabei, aktuell als freier Redakteur.
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