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Tattletail: Horrortrip durchs Furby-Land

Five Nights unterm Weihnachtsbaum.

Ich wurde gerade von einer riesigen Plastikfigur gefressen. Unter dem Weihnachtsbaum zerfleischt. Weil ich ihre Plastikfigurenkinder mit mir herumgetragen habe. Und dabei war noch gar nicht Weihnachten. Klingt komisch? Wartet ab. Selten hat sich ein Spiel in seiner Beschreibung so witzig angehört und sich in der Praxis dann zu einem solchen Horrortrip entwickelt wie Tattletail. "Horrortrip" in einem durchaus positiven Sinn, denn dieses Spiel ist so gruslig und bizarr, dass ich nach jedem Schreckmoment über mich selbst lachen musste. Tattletail, das ist im Spiel der Name eines elektronischen Kinderspielzeugs, das frappierend einem Furby ähnelt. Furbys, das waren diese fellbesetzten Plastikfiguren, die aussahen wie eine Mischung aus Katze, Eule und Gremlin vor der Mutation. Sie wurden per Batterie betrieben, sangen sich gegenseitig Lieder vor und brabbelten in ihrer Furby-Sprache sinnlos herum. So wurden sie zum Hassobjekt einer ganzen Elterngeneration.

Noch versteckt sich Tattletail in seiner Verpackung.

In Tattletail seid ihr aber weder Mutter noch Vater, sondern Kind. Dementsprechend freut ihr euch auch auf euer Geschenk. Es ist fünf Tage vor Weihnachten und ihr könnt es gar nicht erwarten, es auszupacken. Also lauft ihr in den Keller und nehmt vorsichtig das Geschenkpapier ab, um es nachher wieder anbringen zu können, ohne Spuren zu hinterlassen. Darin verbirgt sich, natürlich, Tattletail: Yay! Zu diesem Zeitpunkt hielt ich das Spiel immer noch für eine lustige, wenn auch etwas schräge First-Person-Erfahrung. Ich hatte noch nicht einmal damit gerechnet, dass ich in Tattletail überhaupt sterben kann. Aber zwei Spieltage später hatte ich zu viel Lärm gemacht. Und plötzlich war es soweit. Ich lernte: Alles, was Töne macht, ist schlecht.

Geräusche zu vermeiden, ist aber gar nicht so einfach, denn wie Furby hat auch Tattletail ein fürchterliches Eigenleben. Er quengelt und macht Lärm, wenn seine Batterie zu Neige geht, wenn er Hunger hat oder wenn er gebürstet werden will. Und er hat Angst vor der Dunkelheit, weshalb er auch beginnt zu krächzen und zu quaken, wenn es finster ist. Gleichzeitig muss man die Taschenlampe aber schütteln, um sie aufzuladen, was ebenfalls ein Geräusch erzeugt. Und wie gesagt: Geräusche sind böse, ganz böse. Sie locken Mama an: Mama Tattletail. Erkennbar an zwei unheilig in der Dunkelheit glühenden, roten Augen. Mama ist der Tod. Wer ihr zur Nahe kommt, stirbt. Dumm, dass Tattletail das nicht immer zu wissen scheint und sie deshalb auch gerne mal ruft, woraufhin Mama stolz verkündet: "Mama's looking after you!" Noch nie hat sich dieser Satz so sehr nach einer Morddrohung angehört.

Dürfen in keinem guten Horrorspiel fehlen: Dunkelheit und Taschenlampe.

Tatsächlich kommt der Horror in Tattletail aber gar nicht so sehr von diesen grundlegenden Spielmechaniken, es fühlt sich eher an wie ein 80er-Jahre-Horrorfilm, in dem plötzlich Spielzeuge ein mörderisches Eigenleben entwickeln und beginnen, wohlwollende Menschen um die Ecke zu bringen. Der Grusel entsteht aus der Kombination von Kinderspielzeug und Tod, von lustigen, metallischen I-love-you-Sprüchen und plötzlicher Dunkelheit. Gerade noch habe ich Tattletail am Kühlschrank gefüttert und mir nichts dabei gedacht, war nur leicht gestresst von seinem sich permanent wiederholenden Ausspruch, er sei hungrig. Der kleine Furby-Abklatsch hat genervt, ja, aber in diesem Moment hat sich das Spiel eher angefühlt wie eine Satire auf das Spielzeug. Und dann, wenn Tattletail endlich satt ist, sitzt im Dunklen, neben dem Weihnachtsbaum, Mama Tattletail und starrt mich an. Meine Taschenlampe geht sofort aus, ich drehe mich um, renne weg und als ich mich wieder umdrehe, ist Mama Tattletail wieder da - nur viel näher als vorher. Tattletail fängt an zu schreien, denn es ist dunkel, ich versuche die Taschenlampe anzuschmeißen, damit er Ruhe gibt, aber Mama ist schon zu nahe. Das Geräusch der Lampe entlarvt mich und ich darf mir Mamas spitze Zähne aus der Nähe anschauen.

Man muss ich das auf der Zunge zergehen lassen: Ich bin gerade in einem Fünf-Euro-Spiel als kleines Kind von einem übergroßen Furby gefressen worden. Und trotzdem hatte ich Angst und Gänsehaut. Eben das ist es, was Tattletail so wunderbar fertig bekommt: Es macht aus einer komplett grotesken Situation mit beschränkten grafischen Mitteln einen ein- bis eineinhalbstündigen Höllenritt durch die virtuelle Vorweihnachtszeit. Tattletail und seine Mama bewegen sich nie und sind dennoch ständig woanders. Man wird das Gefühl nicht los, dass das wirkliche Grauen außerhalb des eigenen Blickwinkels stattfindet. Dieses Erlebnis wird umso intensiver, je mehr ihr euch eure Umgebung anschaut. Wer im Wandschrank eine Videokassette mit einem Tattletail-Werbespot findet, wird sich danach nur noch mehr fürchten, obwohl der kurze Clip selbst nichts enthält, das irgendwie Furcht einflößend wäre - er ist eben nur sehr sehr seltsam: Aufgrund der übertrieben fröhlichen, aber dennoch künstlichen Tattletail-Stimme, durch die knallbunten Farben, die im Halbdunkel des Hauses sonst nicht vorkommen und durch das VHS-Störflimmern.

Keine gute Idee: Nähere Bekanntschaft mit Tattletails Mama.

Ich gebe es gern zu: Ich habe Tattletail ein paar Mal abgebrochen. Weil ich mich im Keller verlaufen hatte oder weil ich fand, dass mich Mama in einer unfairen Situation erwischt hat, habe ich mir eingeredet. In Wahrheit war ich aber nur feige, ich hatte Angst vor Mama. Und daher habe ich das Spiel spätestens fünf Minuten nach einem Abbruch wieder gestartet. Es hat mich nicht mehr losgelassen. Und das lag nicht nur daran, dass ich bizarre Spielideen grundsätzlich mag, ich empfand die Atmosphäre im Spiel einfach als unheimlich dicht, das Grauen dieses Plastikspielzeugs so unerwartet greifbar. Beinahe schien es, als hätte ich Mamas Ruf gehört und ihm nicht widerstehen können. Ja, ich glaube so war es. Mama hat nach mir gerufen. Natürlich komme ich da zurück. Zurück zu Mama Tattletail und ihren lustigen Kindern.


Entwickler/Publisher: Waygetter Electronics/Little Flag Software - Erscheint für: PC - Preis: 4,99 Euro - Erscheint am: erhältlich - Getestete Version: PC - Sprache: englisch - Mikrotransaktionen: Nein

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Über den Autor
Markus Grundmann Avatar

Markus Grundmann

Freier Autor

Seine ersten Videospiele konsumierte Markus auf dem Game Boy. Heute spielt er so ziemlich alles, bei dem er auf Knöpfe drücken kann – mit besonderer Vorliebe für Nintendo und extravagante Indie-Titel.
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