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Tiny & Big: Grandpa's Leftovers - Test

Kasseler Indie-Newcomer schicken euch auf die Jagd nach magischem Feinripp

Clever gemacht! Schon der Titel ist ein Eye-Catcher. Sobald das Auge dann beim Browsen durch die Steam-Neuerscheinungen der Woche unweigerlich daran hängen bleibt und man neugierig darauf klickt, hat einen das Spiel in der Tasche. Ein Zeichentrick-Psychonauts blickt einen durch eine Schweißer-Brille an, je nach TV-Sozialisation vielleicht auch eine düstere Version von Spongebob Squarepants oder alternativ Ren & Stimpy mit weniger Gift, Galle und LSD. All diese Stile vereint das Black Pants Studio zu einem eigenständigen und homogenen Look. Mit schraffierten Texturen, harten Kanten und einem Dreck-Filter versehen, ist man sich sicher, so etwas eigentlich noch nie gesehen zu haben.

Nur die besten der besten Indie-Titel lassen es an diesem Punkt nicht bei einem außergewöhnlichen Aussehen bewenden und so freut es mich gleich doppelt, dass das sechsköpfige Black Pants Studio aus Kassel auch spielerisch einige hochinteressante Ideen hatte. Also, worum geht's? Tiny ist zusammen mit seinem redseligen Radio in die Wüste unterwegs, um von seiner Nemesis Big ein unermesslich wundervolles Erbstück seines Großvaters zurückzubekommen: Eine Unterhose. Die verleiht - man soll es nicht glauben - magische Kräfte. Der Nachteil ist, dass sie dazu offensichtlich auf dem Kopf getragen werden muss. Angesichts der verlockenden Allmacht ist dieser modische Malus aber vielleicht noch zu verschmerzen.

Brot und Butter des kurzen 3D-Plattformers ohne jeglichen Leerlauf sind Tinys Werkzeuge, mit denen er von A nach B gelangt. Jegliche Felsformation, jeder Gesteinsquader, lässt sich mit seinem Laser in dem gewünschten Winkel schneiden, woraufhin seine Einzelteile physikalisch plausibel herabfallen. Mithilfe seines Greifhakens zieht ihr umgekippte Säulen dorthin, wo ihr sie haben wollt oder verschießt eine Haftrakete in den Putz, um die tonnenschweren Brocken dann auf Knopfdruck von deren Triebwerk durch die Gegend spüttern zu lassen. Beachtlich ist dabei, dass der Titel vollkommen auf kämpferische Elemente verzichtet. Lediglich periodisch auftretende Bossbegegnungen mit Big unterbrechen Erkundung und laserbefeuertes Terraforming.

Tiny & Big: Grandpa's Leftovers - Trailer

Diese drei Mittel ergeben aber auch allein ein hochinteraktives Bild einer Welt, in der es stets mehr als eine Möglichkeit gibt, zum Ziel zu gelangen. Und selbst wenn ihr den für eine improvisierte Brücke vorgesehenen Felsen mal aus Versehen in eine bodenlose Schlucht befördert, gibt es noch häufig genug Gelegenheit, andernorts ein ähnliches Stück Stein zu besorgen. Schneller geht's aber meist, wenn ihr euch das nächste Loch hinunterwerft, um vom letzten der dicht beieinander gesetzten Checkpunkte noch einmal zu starten. In einem Spiel, das euch bei der Levelgestaltung so erfreulich wenig Vorgaben auferlegt, ist das wohl nicht anders zu regeln. Zudem fördert das die ohnehin schon nicht zu knapp vorhandene Experimentierfreude, die das flotte Steineschneiden kitzelt. Selten fühlte man sich in einem Spiel so mächtig wie hier, wenn man zwanzig Meter hohe Steinsäulen durch einen diagonalen Schnitt langsam kippen sieht wie einen sterbenden Baum.

Und wenn man zufällig den Bereich einer Wand aufschneidet, hinter dem versteckte Goodies - die obligatorischen Sammelitems ebenso wie Arcade-Automaten mit kurzen Zusatz-Herausforderungen im GameBoy-Look - warten, fühlt man sich für seine Neugierde auch angemessen belohnt. Klasse ist auch, wie das Spiel einzelne Stücke seines wirklich fantastischen psychedelischen Soundtracks als Kassetten in den Leveln versteckt. Das Lied Lusitania von der Cromagnon Band läuft hier aktuell in der Dauerschleife.

Das Spiel kennt im Grunde nur zwei Umgebungen, die Wüste und einen blau schimmernden Tempel Untertage, in denen ihr zwischen drei und vier Stunden unterwegs seid. Und auch wenn das nicht nach viel klingt, sind die über Steam oder GOG.com veranschlagten knapp zehn Euro - beziehungsweise derer fünfzehn, wenn man die üppige Handelsversion mit Postern, Postkarten und einem Prototypen des Spiels sein Eigen nennen will - beileibe nicht zu viel verlangt. Das Spiel weiß genau, wie lange es willkommen ist und zieht zum richtigen Zeitpunkt mit einer netten Wendung in der Geschichte die Notbremse. Natürlich ist die Steuerung nicht auch nur annähernd so präzise, wie sie in einem Mario oder Jak & Daxter ist, hier und da versagt Black Pants gerade im dunklen Tempel-Bereich etwas die Spielerführung und es passiert schon mal, dass man unbeabsichtigterweise durch einen schlecht sichtbaren Riss im Boden in ein kurzes und schmerzloses Verderben stürzt. Aber das sind Kleinigkeiten, die nur selten für Probleme sorgen und über die man folglich gerne hinwegsieht.

Denn letzten Endes gelingt Black Pants hier ein nicht ganz unerhebliches Unterfangen: Selten findet man bei derart originell aussehenden Spielen die Substanz auf Augenhöhe mit dem Stil. Dabei ist der durchaus originelle Handlungsspielraum Tinys zu jedem Zeitpunkt absolut spieldienlich. Nie hat man das Gefühl, eine nur halb realisierte Technik-Demo zu erleben, wie sie andere Titel mit vergleichbar experimentellen Werkzeugen oft sind.

Im Gegenteil. Als humorvolle Sandkiste voller gewaltiger Bauklötze, die ihr nach Lust und Laune schneidet und drapiert, macht Tiny & Big einen ziemlich runden Eindruck. Es beschränkt sich aufs Wesentliche und nimmt während der kurzen Dauer vielleicht keine allzu große Entwicklung. Trotzdem genügt es mir als stichhaltiger Beweis für den Erfindergeist der deutschen Indie-Szene. Gerne mehr davon.

8 / 10

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Alexander Bohn-Elias

Stellv. Chefredakteur

Alex schreibt seit über 20 Jahren über Spiele und war von Beginn an bei Eurogamer.de dabei. Er mag Highsmith-Romane, seinen Amiga 1200 und Tier-Dokus ohne Vögel.

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