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Twitch Plays Pokemon - Die Internetgötter müssen verrückt sein

Gemeinsam in den Wahnsinn abtauchen.

Twitch Plays Pokemon könnte das dümmste und zugleich erschreckend genialste Phänomen in der Geschichte des Internets sein. Über 46 Millionen Interessierte schauten dem Spektakel in den vergangenen drei Wochen zu. Wer das erste Mal über den Livestream stolpert, erkennt bloß wirre Szenen, geprägt von Chaos, in denen mehrere tausend Spieler gleichzeitig versuchen, der Allerbeste zu sein.

Wie bitte? Ihr habt noch nie von Twitch Plays Pokemon gehört? Nun, seit mittlerweile 24 Tagen läuft auf der Streaming-Plattform Twitch eine bearbeitete Version der alten Pokemon-Spiele. Zuschauer dürfen zu jeder Zeit Kommandos wie oben, rechts, a, b oder Start eingeben, die das Spiel dann direkt übernimmt. Und zwar alle auf einmal. Da sich manchmal ungefähr 100.000 Leute gleichzeitig an dem Experiment beteiligen, kann sich jeder garantiert das resultierende Unheil vorstellen. Zumal jegliche Eingaben durch die Verzögerung erst 20 Sekunden später im laufenden Spiel erscheinen.

So fühlt es sich beim Zugucken ständig an.

Deswegen wirkt der Ablauf von Twitch Plays Pokemon wie das Spielen eines hyperaktiven Kindes, das zusätzlich noch unter multipler Persönlichkeitsstörung leidet und den Game Boy allein mit den Füßen bedient. Niemand hat auch nur im Ansatz daran geglaubt, so erfolgreich das gesamte Abenteuer abschließen zu können. Es war vielmehr der impulsive Umsatz einer netten und überaus bescheuerten Idee.

Tja, und 16 Tage nach dem Start folgte der Sieg über den Rivalen im Anschluss an die Vernichtung der Top Vier. Spiel beendet. Experiment geglückt.

Trotz einer starken Verzögerung von 20 Sekunden wählte die Community eine perfekte Attacke nach der anderen aus. Fast ohne Probleme zog der Trupp durch die Räume der furchteinflößenden Arena und spielte besser als so mancher Einzelgänger. Selbst in der Anonymität des Internets, die Leute normalerweise zu ihrem schlechtesten Verhalten treibt, fügte sich eine Gruppierung aus lauter Unbekannten zusammen, die gemeinsam richtige Entscheidungen trafen.

Betrachtet man den gesamten Ablauf, entsteht der Eindruck einer wachsenden Intelligenz des Schwarmdenkens. Obwohl eine genaue Absprache in dieser Form, bei der absolut jeder Zuschauer blinde Eingaben tätigen darf, praktisch unmöglich ist, lernten die Spieler, als gemeinsames Bewusstsein besser zusammenzuarbeiten.

Twitch Plays Pokemon war der impulsive Umsatz einer netten und überaus bescheuerten Idee.

Und so schaut es aus.

Während ich diese Zeilen schreibe, befindet sich der Protagonist Red gerade im Kampf gegen die Top Vier aus der zweiten Pokemon-Generation. Alle acht Orden der Johto-Region sammelte man in gerade einmal sieben Tagen. Ziemlich beeindruckend, dauerte es in Version Rot/Blau knapp über zwei Wochen. Noch immer springt das Geschehen auf der Oberwelt ständig in das Menü. Manchmal bleibt das Team eine Minute lang im Pokedex hängen oder versucht krampfhaft, das Spiel andauernd zu speichern. Sobald es dann an die Steuerung der Figur geht, wandert diese planlos von einer zur anderen Seite, stellt sich permanent in Sackgassen oder dreht sich auf der Stelle im Kreis.

In den meisten Fällen bietet Pokemon seinen Spielern auf der Karte einen größeren Freiraum für Fehler. Die Wege sind breit und es warten kaum Hindernisse, die ernsthafte Präzision verlangen. Doch sobald solche Stellen auftauchen, bricht die Hölle los. Einige versuchen mit allen Mitteln, einen sinnvollen Plan zu erstellen, und wollen für Ordnung sorgen. Davon lässt sich der Rest leider wenig beeindrucken und hämmert weiterhin fröhlich hoch, hoch, hoch, runter, a, a, b, hoch, Start in den Chat.

Aus diesem Grund integrierte der Veranstalter einen zusätzlichen Modus in das Programm, nachdem die Community knapp einen Tag in der Basis von Team Rocket festsaß. In der Anarchie-Phase bleibt alles wie gehabt und das Programm übernimmt weiterhin jegliche Inputs gleichzeitig. Erreicht man durch genügend Stimmen jedoch den Demokratie-Modus, erfolgt alle 30 Sekunden automatisch die bis dahin am häufigsten gewünschte Eingabe. Daraus resultierte ein ständiger Kampf zwischen zwei Fronten, die sich auf eine großartig blödsinne Art und Weise in ironisch angehauchten Politlager zerstritten.

Manchmal bleibt das Team eine Minute lang im Pokedex hängen oder versucht krampfhaft, das Spiel andauernd zu speichern.

Und das ist nur ein kleiner Teil des Schwachsinns.

Mittlerweile wechselt das Spiel jede Stunde automatisch in den Demokratie-Modus, nur um wenige Sekunden danach in Anarchie überzugehen. Zwischenzeitlich erschien eine seltsame Kombination beider Phasen, in der sich das Programm per Zufall alle 30 Sekunden eine Eingabe herauspickte. Leider nur mit mäßigem Erfolg. Aber gerade diese Experimentierfreude macht die gesamte Erfahrung so interessant. Niemand kann sagen, wie sich eine bestimmte Veränderung letztendlich auswirkt.

Fast jeden Tag passieren unerwartete Dinge, die sofort eine Flut an Fanart mit sich bringen. An dieser Stelle die kurze Zusammenfassung der besten Ereignisse. Sehr früh im Spiel kristallisierte sich ein deutliches Problem heraus: Wie fängt man in einem solchen Wirrwarr voreiliger Aktionen überhaupt neue Pokemon? Als nach unzähligen Stunden endlich ein wildes Taubsi im Pokeball landete, war die Freude deshalb groß und das kleine Monster startete eine ungeahnte Karriere. Zur Überraschung vieler Spieler mutierte Taubsi schnell zum besten Pokemon des Kaders und entwickelte sich schließlich zu Tauboga und danach Tauboss. Und weil das Internet kleine Erfolge natürlich so stark wie möglich übertreiben muss, ernannte man Tauboss zum Bird Jesus.

Erst am letzten Wochenende gelang Twitch das großartige Kunststück, den Meisterball sofort für ein Goldini zu verschwenden.

Bird Jesus.

Weitere Religionen folgten schnell. Noch in der frühen Phase des Abenteuers muss sich Red zwischen zwei Fossilen entscheiden. Twitch Plays Pokemon wählte das Helixfossil. Da der Ablauf am einfachsten durch die Eingabe der Starttaste unterbrochen werden kann, landete man immer häufiger auf dem Fossil, das sich nicht mehr aus dem Inventar entfernen ließ. Zunächst erzeugte es im Chat wenige Lacher. Doch je öfter das Helixfossil auftauchte, desto mehr wilde Zurufe gab es unter den Spielern. Und so galt das Fossil auf einmal als eine Art Magic 8 Ball oder magische Miesmuschel, die Red vor Angriffen im Kampf konsultieren sollte. Schlussendlich bezeichnete man das Helixfossil als den alleinigen Gott der Pokewelt, der über die Zukunft entschied.

Zugegeben, es klingt einfach nur behämmert und dennoch könnte ich mir stundenlang all die verrückten Bilder, Comics oder Animationen ansehen, die ständig auftauchen. Selbst im Durchgang der Kristall-Edition nimmt der Wahnsinn kein Ende. Erst am letzten Wochenende gelang Twitch das großartige Kunststück, den Meisterball sofort für ein Goldini zu verschwenden. Anstatt sich zu ärgern, feierte die versammelte Community den gefangenen Goldfisch als neuen Messias. Die ersten Zeichnungen ließen keine Stunde auf sich warten.

Von der ganzen Aktion kann natürlich jeder halten, was er will. Ich nehme es niemandem übel, wenn er sich den Stream für zehn Sekunden anschaut, enttäuscht über den geistigen Zustand der Menschheit den Kopf schüttelt und sich fragt, wie so etwas überhaupt existieren darf. Allerdings muss man wenigstens zugeben, dass es sich hierbei um ein außergewöhnliches Sozialexperiment handelt, dessen Entwicklung sich jeglicher Logik entzieht. Dem gigantischen Chaos zum Trotz finden die Leute gemeinsam einen Weg, lernen, sich als kollektive Intelligenz zu verhalten, und passen ihre Strategien ständig neu an. Ganz nebenbei entsteht eine Sammlung an Meta-Humor, den ich so noch nie erlebt habe. Man braucht nicht einmal aktiv mitzumachen, um sich als ein Teil der Erfahrung zu sehen. Ich muss keine Eingaben tätigen, keine Besprechung der Abläufe mitbestimmen oder Fanart zeichnen. All diese Dinge kann ich vollkommen passiv aufnehmen und fühle mich alleine dadurch einbezogen in den Kreis der wohl verrücktesten Bande des Internets.

All hail the mighty Helix!

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Björn Balg

Freier Redakteur

Freier Autor und wahrscheinlich der letzte Mensch ohne einen Facebook-Account. Liebt Trash und verbringt zu viel Zeit mit dem Ansehen von Katzenvideos.
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