Wenn du auf einen Link klickst und etwas kaufst, können wir eine kleine Provision erhalten. Zu unseren Richtlinien.

inFamous: Second Son - Test

Die Blaupause für den Superhelden in einer offenen Welt

Technisch ohne Frage brillant fällt dem Spiel wenig ein, was es in seiner Schönheit tun sollte. Wenig Abwechslung, schwache Handlung.

Kennt ihr die Szene in dem dritten X-Men-Film, in der Magneto in eine Art Punk-Goth-Underground-Schuppen geht, um zu rekrutieren? Er stößt auf ein paar Emo-Goths mit eher unspektakulären Fähigkeiten - als Nicht-Comic-Nerd bin ich sicher, dass hier in erster Linie sonst geliebte Charaktere im Schnelldurchgang abgehandelt wurden - und holt sie ins Boot. Diese Figuren scheinen etwas zu jung, etwas zu möchtegern-cool-hip in der Art von cool-hip, wie sie ein alternder Musiklabel-Profi entwerfen würde, und so schnell, wie sie kamen, scheint der Film sie auch wieder vergessen zu haben. Nun, inFamous Second Son hat sie nicht vergessen und wenn es auch nicht genau diese Figuren und natürlich keine X-Men sind: Dies ist ihr Spiel. Die B-Riege der Superhelden.

Made famous by...

Ich bin auch noch nicht fertig mit dem Vergleich, denn während in den ersten beiden Spielen die Helden und ihre neuen Fertigkeiten auf eine noch recht unvorbereitete Welt trafen und in erste Linie Zombie-Mutanten bekämpften, geht es nun gegen die aufgebrachte Welt, die sich vor den Super-Kräften fürchtet und dafür eigens eine faschistoide Superbehörde aus dem Boden stampft. Getreu dem Motto „Keep calm and OBEY!" wurde das nun als Hintergrund dienende Seattle in einen Mini-Militärstaat verwandelt, alles abgeriegelt, und da man, wie das Spiel selbst so schön sagt, „Feuer mit Feuer bekämpfen muss", gleich noch eigene Mutanten angeheuert, um alle anderen Träger von außergewöhnlichen Fertigkeiten auszurotten. Eltern denunzieren ihre übersinnlich begabten Kinder, Propaganda allerorten, es wurde das Grundthema der X-Men-Filme komplett übernommen. So, als wäre jemand bockig gewesen, die Rechte nicht bekommen zu haben, und hätte sich dann einfach paar neue Helden ausgedacht. Die Magneto ebenfalls höchstens als Kanonenfutter anheuern würde. Man kann es bis zum Ende treiben. Der eine Verlauf des Spiels lässt sich leicht als der andenken, in dem Magneto gewonnen würde, und der andere als das, was man im Film sah.

Einer der bleibenden Momente: Von Nord nach Süd zu wechseln.

Abgerundet wird die nur bedingt erfreuliche Hommage in den Credits, wo eine L.A.-Band Heart-Shaped Box covert, statt für ein Spiel, das ausschließlich in Seattle stattfindet, das berühmte Original zu nehmen. Second Son hängt in einem inhaltlichen Limbo zwischen dem Komplettwahnsinn eines Saints Row 4 und der „Bodenständigkeit" eines GTA 5 und schmiegt sich dessen bewusst kuschelig nah an seine so offensichtliche wie von ihm unerreichte Comic-Vorlage.

Altbekannte Muster

In einem meiner ersten Spiele der letzten Generation hüpfte ich auf der Xbox 360 umher und bekämpfte Mutanten, damals selbst aufseiten einer ominösen Superbehörde, und holte mir meine Skills für Kills ab. Diesem folgten weitere Spiele mit genau demselben Aufbau. Die inFamous-Teile, zu einem gewissen Grad die Assassin's Creeds und GTAs, sehr viel direkter dann wieder die Batman Arkhams, Prototype 2 oder zuletzt Saints Row 4. Das grundsätzliche Spielprinzip unterschied sich in Nuancen, die Pfeiler der offenen Stadt und die Art von Aufgaben, die man darin erledigte, waren jedoch im Rahmen der Fortbewegung des Helden, seiner Kampftechniken und Fertigkeiten definiert und oft genug recht ähnlich. inFamous: Second Son reiht sich nahtlos ein.

Das Ergebnis des Graffiti-Minispiel. Erwartet nicht zu viel, das Spiel entscheidet, was ihr wo sprayed.

Das waren jetzt alles andere als schlechte Spiele, viele von ihnen sehr gut, und sie definierten mit die letzte Generation, aber mit neuer Hardware kommt automatisch auch der Wunsch nach vielleicht nicht unbedingt etwas ganz Neuem, aber doch zumindest Ideen, die das bekannte Konzept weiterführen. Dieser eine, entscheidende Schritt bleibt Second Son nicht nur in seiner Handlung verwehrt.

Lasst uns mit dem Aufbau anfangen. Seattle unterteilt sich in Nord und Süd, in Letzterem findet die zweite Hälfte des Spiels statt. Die beiden Hälften sind jeweils in ein halbes Dutzend Bezirke aufgeteilt und in jedem davon steht ein gut bewachter Sende-Truck des Unterdrückerstaates. Zerstört ihr ihn, werden die jeweilige Haupt- und die Nebenmissionen drumherum freigeschaltet. Wiederum Letztere bieten ein wenig Sammelei - versteckte Audiologs -, Skill-befreite Sprayer-Aktionen, die Sucherei nach namenlosen Agenten irrelevanter Natur und ein paar Kämpfe gegen generische Gegnergruppen. Wer hochmotiviert ist, findet alle Kameras, um den staatlichen Einfluss in dem Bezirk auf null zu bringen. Alle mal melden, denen dieser Ablauf bekannt vorkommt... Danke. Also alle, die seit GTA 3, spätestens seit dem ersten Assassin's Creed zumindest ein Open-World-Spiel hinter sich gebracht haben.

Der TRON-Appeal der Neon-Kraft hat schon was.

Dass man das ganz gerne macht, liegt zum einen an der wirklich bildschönen Grafik. Die Sichtweite ist gefühlt endlos, die Details in der Nähe sind fein gezeichnet. Die Stadt wurde mit so viel Liebe zum Detail entworfen, dass sich die einzelnen Bezirke und auch einzelne Straßen und Häuser so gut unterscheiden, dass ihr euch auch ohne Karte wunderbar zurechtfinden würdet. Es gibt viel zu entdecken, von kleinen Eastereggs über satirische Firmennamen hin zu den Details des Konflikts in der Spielwelt. Zum anderen funktioniert es - und das mit der Zeit dank neuer Superkräfte immer besser - aufgrund der schnellen und präzisen Fortbewegung. Nicht das normale Klettern, das taugt immer noch nicht viel. Aber zum Glück ist es dank der Superkräfte eh praktisch nicht mehr nötig. Womit wir jetzt bei besagten neuen Kräften wären, der großen Neuerung und einem sehr zweischneidigem Schwert.

Video killed the concrete star

Euer neuer Held kann Kräfte von anderen Mutanten absorbieren, und das ist auch ein zentrales Hauptelement der Handlung und des Spiels - er braucht die Kraft der Oberbösen, um seine Familie und seinen Indianerstamm zu retten. Es beginnt mit Rauch. Ihr zoomt kurze Strecken als Rauch nach vorn. Ihr könnt durch Lüftungsschächte in einer Sekunde auf ein Haus gelangen. Ihr könnt Granaten werfen, mit Raketen und kleineren Geschossen um euch ballern. Dann kommt Neon. Ihr zoomt kurze Strecken als Lichtstrahl, rauscht so auch Häuser hinauf, werft Granaten, schießt Raketen und ballert normal herum. Als Drittes folgt schließlich Video. Ihr rauscht kurze Strecken und Häuser als Lichtengel rauf, schießt Raketen und ballert. Eine Abweichung gibt es zum Glück: Ihr könnt euch mit dieser Kraft unsichtbar machen, was zumindest nach zwei Dritteln des Spiels für eine kleine neue Nuance sorgt. Ansonsten sehen die Kräfte schick und unterschiedlich genug aus, aber im Großen und Ganzen könnte es auch eine einzelne sein, denn egal, was ihr gerade nutzt, der Ablauf der Kämpfe ist nicht groß unterschiedlich.

Die Sichtweite ist gefühlt endlos, die Details in der Nähe sind fein gezeichnet. Die Stadt wurde mit so viel Liebe zum Detail entworfen, dass ihr euch auch ohne Karte wunderbar zurechtfinden würdet.

Es gab eine Zeit, wo die beiden wie rebellische Freigeister gewirkt hätten. 2014 ist es leider nicht.

Die vierte Kraft scheint nur zu existieren, um euch zu ärgern. Während euch eure Gegner das ganze Spiel über mit cool aussehende Betonkräften traktieren - die sie nicht nur als Panzerung nutzen, sondern auch, um schnell kurze Strecken zurückzulegen sowie Granaten und Raketen zu feuern -, bekommt ihr diese Kraft erst, nachdem das Spiel praktisch vorbei ist. Das soll euch wohl ein wenig die Aufräumarbeiten nach dem Abspann versüßen, für die ihr nach erledigter Handlung in die Stadt zurückgeschickt werdet. Ein ganzer Fertigkeitenast öffnet sich nach dem Ende des Spiels. Ich weiß wirklich nicht, was das soll. Die drei andren Kräfte machen euch zu diesem Zeitpunkt schon praktisch unbesiegbar, selbst wenn ihr nicht nach Belieben wechseln könnt.

Das „Umschalten" der Kräfte erfolgt, indem ihr das jeweilige „Element" absorbiert. Neben rauchenden Autowracks, an Schornsteinen oder anderen Brandstellen gibt es Rauch, Neonschilder versorgen euch mit der zweiten Kraft und Bildschirme und Antennen mit dem ominösen Video. All diese Dinge sind geschickt über die ganze Stadt verteilt und nur in bestimmten Handlungsepisoden müsst ihr mit einer einzelnen klarkommen. Es ist schade, dass die Kräfte sich im Effekt so ähneln, daher fehlt hier leider eine mögliche taktische Komponente, nämlich dass man sich entscheiden muss, was man benutzen will und wo man es herbekommt.

Ein ganzer Fertigkeitenast öffnet sich nach dem Ende des Spiels.

Auf das fantastisch umgesetzte Seattle lass ich nichts kommen.

Der Fertigkeitenbaum enttäuscht mit seinem strikt konservativen Denken. Echte neue Fertigkeiten schaltet ihr praktisch nicht frei, stattdessen werden Fortbewegung, Granaten, Raketen, Schüsse und Energie mit jedem der zu sammelnden Punkte marginal verbessert. Nicht sehr aufregend, auch wenn sich irgendwann das befriedigende Gefühl von Unbesiegbarkeit in hohen Ausbaustufen einstellt. Die spannendsten Verbesserungen - was nicht so viel heißt - werden abhängig davon freigegeben, wie ihr ihr spielt, ob ihr „gut" oder „böse" seid. Es ist ein Markenzeichen der Serie, dass euer Karma in beide Richtungen ausschlagen kann, und natürlich findet es sich auch in Second Son wieder.

Gut. Böse. Jacke. Hose.

Der Trailer des Spiels selbst liefert dafür eine solche Steilvorlage, dass ich sie einfach nicht ignorieren kann. Wortwörtlich: „Gefürchtet? Geliebt? Wen interessiert es!". Das trifft es ziemlich gut. Wollt ihr gutes Karma sammeln, tötet ihr niemanden, sondern setzt die Gegner nur fest. Natürlich lasst ihr auch die Zivilisten leben und malt nette, statt-aggressive Graffiti an die paar dafür markierten Stellen (ein schöneres Bild für das Möchtegern-Rebellentum des Helden kann ich mir nicht vorstellen: Spraye nur dort, wo es Dir erlaubt ist...). Das jederzeit greifbare Ergebnis dieser Bemühungen in eine von beiden Richtungen ist, dass euch die Leute auf den Straßen meiden oder zujubeln und dass ihr ein paar besondere Schussvarianten freischaltet, die euch das Töten oder Betäuben einfacher machen. Es ist dabei so ausgeglichen, dass es im Spielablauf keine Rolle spielt, wofür ihr euch entscheidet.

Gefürchtet? Geliebt? Wen interessiert es!

Nahkämpfe sind immer eine Option, aber selten die, die ihr nutzen werdet.

In der Handlung wirkt es sich dann natürlich schon aus und an ein paar Stellen dürft ihr euch sehr plakativ für eine von zwei Richtungen entscheiden. Dies wiederum ändert die nebenbei geführten Dialoge und Details in den Story-Missionen. Solltet ihr es euch anders überlegen, gibt es auch zwei oder drei Stellen, an denen ihr sehr direkt und wie aus den Vorgängern bekannt zwischen der „guten" und „bösen" Mission wählt. Dann noch der Abspann und ihr habt schon all die Tiefe, die das System zu bieten hat. In diesem Punkt fand nicht die geringste Verfeinerung statt, es gibt kein Arbeiten mit Feinheiten oder großen Gewissensfragen, nie ein „Du kannst sie nicht alle retten!". Entweder ihr wollt der offensichtliche Held sein oder lieber mit Spaß an der Freude und Superkräften auf eine Rampage-Tour gehen. Wen interessiert es.

Die Handlungsmissionen selbst experimentieren auf der einen Seite relativ viel mit den Kräften und erfreuen sich an dem Spaß, durch die Gegend zu huschen und die schnellen, bewegungsintensiven Kämpfe auszutragen. Jede von ihnen ist kurzweilig, unterhaltsam, leider ein wenig zu gut mit schwachen One-Linern des Helden gefüttert, und ich kann aufrichtig und ehrlich sagen, dass ich mich bei keiner einzigen gelangweilt habe. Okay, die Bosskämpfe waren nicht gerade grandios, sowohl beim Schwierigkeitsgrad als auch der Intensität. Wenn man schon einen Betonsaurier an einem Punkt hat und dazu eine Stadt, dann muss man die beiden auch einander vorstellen. Aber sonst hatte ich die etwa acht bis zehn Stunden der Handlung einfach Spaß, ohne mich jetzt groß an spezifische Momente zu erinnern. Mein Glas ist in diesem Punkt also halb voll.

Von Zeit zu Zeit versuchen die Charaktere einen bedeutenden Moment zu haben. Mit minimal bedeutsameren Texten hätte es was werden können.

inFamous: Second Son ist der Archetyp des Open-World-Spiels. Es ist eine sauber entworfene Blaupause. Hab eine schöne Stadt. Gib dem Helden die Mittel, darin elegant herumzukommen. Lass ihn ein paar schöne Kämpfe ausfechten. Schalte nicht alles gleich frei, sondern baue kleine Hürden ein, um den Reiz der Entdeckung aufrechtzuerhalten. Verteile Sammelzeugs und Nebenmissionen, um einen Zeitvertreib neben der Handlung zu bieten. Für diese entwerfe ein klares Ziel und verliere Dich nicht in Verwirrspielchen.

inFamous' Problem ist, dass es diesen Regeln zu strikt folgt. Die Superkräfte, die auf den ersten Blick so unterschiedlich wirken, stellen sich durchweg als relativ einfache Folge dieser Regeln heraus. Sie geben euch Munition und Fortbewegung, aber haben spielerisch sonst wenig mehr zu bieten, als es ein Auto und ein paar Waffen in einem anderen Setting tun würden. Es funktioniert und als Grundset gibt es daran nichts auszusetzen. Aber etwas mehr Differenzierung wäre wünschenswert gewesen. Die Fortbewegung mit den Kräften macht Freude, in Sekunden rauscht ihr durch Straßenzüge, in höchste Höhen und der Blick von dort weidet sich an einem visuell bildschön designten Seattle.

Wo dann aber die Handlung und die Figuren, die erinnerungswürdigen Neben- und Hauptmissionen einsetzen müssten, um mit diesem gelungenen Handwerkszeug etwas genuin Beeindruckendes zu entwerfen, zieht sich Second Son auf zu bekanntes Terrain zurück. Weder das „Gut oder Böse"-Spielchen noch die eigentliche Geschichte bleiben wirklich hängen. Es ist, als hätte inFamous: Second Son etwas zu früh der Mut verlassen, mehr als nur ein ebenso schöner wie schön spielbarer Titel zu sein. Trotzdem, habt Spaß in Seattle. Es lohnt sich immer noch. Aber ein Ausflug, der euch ein Leben lang begleitet, der wurde es dann leider doch nicht ganz.

7 / 10

In unserer Test-Philosophie findest du mehr darüber, wie wir testen.

In diesem artikel
Verwandte Themen
PS4
Über den Autor
Martin Woger Avatar

Martin Woger

Chefredakteur

Chefredakteur seit 2011, Gamer seit 1984, Mensch seit 1975, mag PC-Engines und alles sonst, was nicht FIFA oder RTS heißt.

Kommentare