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Everybody's Gone to the Rapture erzeugt selbst bei eitel Sonnenschein Gänsehaut

Dear Gestern

The Chinese Room war nicht das richtige Studio für Amnesia: A Machine for Pigs. Die wortreichen Schauergeschichten dieses Studios bissen sich für meinen Geschmack mit dem verhältnismäßig gewaltfreien Survival-Ansatz von Frictionals Vorlage. Es war ein nachdenklicher und stellenweise sehr stimmungsvoller Titel, der seinen Spieler aber nie in vergleichbarem Maße zu packen bekam wie das unbarmherzige Streichhölzerzählen, das ihm vorausging.

The Chinese Rooms Creative Director, Dan Pinchbeck.

Mit Everybody's Gone to the Rapture laden die Dear-Esther-Macher nun in ein englisches Dörfchen in den achtziger Jahren. Grüne Hecken, weiße Zäune, pittoreske Häuschen - erzkatholische, irgendwie aber auch manierliche Prüderie zwischen Tee und Keksen. Noch dazu bei eitel Sonnenschein. Und doch waren bereits die ersten fünfzehn Minuten, die ich auf Sonys PSN Digital Games Showcase in London anspielte, gruseliger als das meiste, was im Bauch der Schweinemaschine vor mir durch den Laternenschein huschte. Der Titel verweist auf das biblische Ende der Welt. Kurz bevor Gott sich denkt "Komm, lass' gut sein" und den Stecker zieht, holt er alle Gläubigen, ob lebend oder schon tot, zu sich. Das ist zumindest der Erklärungsansatz, den der einzige Hinterbliebene plausibel findet - ausgerechnet Priester Jeremy, den ich im ersten Kapitel des Spiels durch die ausgestorbene Beschaulichkeit steuere.

Die biblische Entrückung ("Rapture"), ein Mann Gottes, dessen Geschicke man lenkt - andere Kreative fassen religiöse Themen nur mit spitzen Fingern an. Als ich Chinese-Room-Boss Dan Pinchbeck darauf anspreche, ob er den biblischen Kontext gar nicht heikel findet, relativiert ihr die Glaubensbezüge ein Stück weit. "Es ist eigentlich kein religiöses Spiel. Gut, der Hauptcharakter zu diesem Zeitpunkt des Spiels ist ein Priester, und sein Verständnis davon, was hier passiert, ist definitiv religiös gefärbt", so der schnell sprechende Brite. "Aber das Interessante ist ja, dass es so charaktergetrieben ist, dass [die Geschehnisse] durch die Linse verschiedener Leute erfasst werden, die versuchen, zu verstehen, was hier passiert ist."

"Natürlich unterhielten wir uns im Vorfeld darüber, dass das Spiel einen sehr religiösen Eindruck erwecken würde und dass wir niemandem zu nahe treten oder religiöse Gefühle verletzen wollten", erinnert sich Pinchbeck. "Aber es [das Verschwinden der Menschen bei der Entrückung] ist einfach so ein ergreifendes Bild, das auch die Grenzen dieses speziellen Glaubens überschreitet. Die Idee, dass die Leute einfach fort sind und diese leere Welt hinterlassen. Da wirkte es einfach wie der natürliche Titel für das Spiel." Und ja, das ist eines von der Sorte, wie sie Pinchbeck und sein mittlerweile 15 Leute umfassendes Team schon immer gerne machten: Man blickt durch die Augen einer Figur auf das Geschehen, und erlebt in Intervallen, was hier passierte.

Was von den Menschen übrig blieb: eine Art Schatten aus Licht. Und nichts als Erinnerungen an bessere und allmählich schrecklich werdende Tage.

Allerdings macht The Chinese Room durchaus einen Schritt weg vom reinen Beobachtertum, das systemisch anspruchsvolle Spieler so häufig kritisieren. Tatsächlich gebt ihr dieses Mal selbst das Tempo vor. Die offen ausgelegte Szenerie hilft dabei, sich treiben zu lassen. Man zieht förmlich die virtuelle Luft ein, deren Duft nach frisch gemähtem Rasen man fast in der Nase zu haben meint, und ergötzt sich an dem Örtchen, das Pinchbeck bewusst an seinen Heimatort angelehnt hat. Zunächst läuft man ein wenig orientierungslos von Haus zu Haus. Der Ort wirkt, als wäre er gerade noch voller Menschen gewesen, Leute, die sich zu einem Umtrunk einladen, auf dem Bürgersteig einander grüßen, die Beete wässern. Doch aus den Briefschlitzen quellen Flugblätter mit Quarantänewarnungen, einigen Notfallhinweisen und dem beunruhigenden Befehl, bloß nicht aus dem Ort herauszutelefonieren. Das Dörfchen wurde zunächst isoliert und hat sich dann offenbar von innen selbst aufgezehrt.

Hier und da seht ihr ätherische Irrlichter durch die Landschaft huschen, kurz an Haustüren verweilen und lasst euch so auf Interaktionsmöglichkeiten aufmerksam machen. Einigen dieser Lichter könnt ihr euch nähern. Mit dem Kippsensor des Dual Shock 4 manipuliert ihr sie, vergrößert und verkleinert sie, während sie vor euch nach links oder rechts schweben. Dabei dringt ein bohrendes Radiorauschen in eure Ohren, bis ihr kurz vor der Schmerzgrenze den Punkt findet, an dem ihr auf einer Wellenlänge mit eurer geschichtsträchtigen Umgebung seid. Dann spielt sich vor euch eine geisterhaftes Schauspiel ab: Ihr erlebt an Ort und Stelle einige Momente aus dem Leben verschiedener Dörfler, bevor alles den Bach runterging. Die Lichter nehmen beinahe Menschengestalt an, schemenhafte Szenen spielen sich vor euch ab und es liegt bei euch, aus den Geschicken der fantastisch gesprochenen Figuren abzuleiten, was genau passiert sein könnte.

Es dauert etwa drei dieser Szenen, bis bei mir der Groschen fällt und sich die nette, nur dezent gespenstische Stimmung auf einmal in daumendicker Gänsehaut auf mir niederschlägt. Ich werde offenbar Augen- oder zumindest Ohrenzeuge meiner ersten Entrückung. Ein offenkundig verzweifelter Mann, beziehungsweise seine Lichtgestalt-artigen Reste, die Jeremy sehen kann, stolpert schweren Ganges in die Kirche. Er murmelt was von Vergebung und vielerlei Dingen, die ich noch nicht in den rechten Kontext zu setzen in der Lage bin. Als sich die Betroffenheit über die herzzerreißende schauspielerische Darbietung in meinem Hals zu einem festen Kloß zusammenrollt, passiert es auf einmal. Aus dem Inneren des Mannes entspringt ein allmählich anziehendes, unmenschliches Getöse. So muss Satans Faxgerät an einem schlechten Tag klingen.

Viele kleine, wie von Hand platzierte Umgebungsdetails erzählen ihre eigenen Geschichten.

Und dann ist es auf einmal vorbei und die gerade noch zart glimmenden Lichtreste, die den Mann umrissen, ein für alle Mal verschwunden. Es ist ein eindringlicher, überraschender und durch und durch verstörender Moment. Gerade, weil ich nur ein schemenhaftes Lichtspiel sehe, weshalb meiner Fantasie natürlich direkt die Sicherungen durchbrennen. Ein anderer Spieler hätte vielleicht eine andere Route zu dieser Szene eingeschlagen und ihr so vielleicht mehr (oder weniger) Informationen entziehen können. Denn Pinchbeck betont, dass jeder selbst entscheidet, wie er die Umgebung erkundet und demzufolge auch, in welcher Reihenfolge er die Geschichte entschlüsselt. Für die Designer schon rein strukturell eine gewaltige Herausforderung, schließlich zeichnet man hier die letzten Tage und Entscheidungen eines ganzen Dorfes nach.

"Open World ist schwer", holt Pinchbeck sichtlich seufzend aus. "Das Schwierigste war, dass wir dem Spieler keine Grenzen stecken wollten. Wir wollten sicherstellen, dass alles direkt zu entdecken ist. In den meisten Open-World-Spielen kann man zwar überall hingehen, nimmt dann aber lineare Missionen an, die man auf eine vorbestimmte Art absolviert. Wir wollten, dass es keine lineare Narrative gibt." Wie man sich das vorstellen muss, bleibt er zum Glück nicht schuldig: "Innerhalb unserer sechs verschiedenen Schauplätze könnt ihr ansetzen, wo ihr wollt. In jedem Schauplatz gibt es etwa 30 Szenen zu entdecken, die in jeder Reihenfolge absolvierbar sind. Auf diese Weise schaffen wir ein persönliches, individuelles Erlebnis. Das auszubalancieren war ein Albtraum, deshalb haben wir auch so lange gebraucht."

"Jedes Gebiet hat eine Verbindung zu einer Art zentralem Charakter, der für diesen Ort von größerer Bedeutung ist", fährt er fort. "Daher drehen sich im ersten Teil des Dorfes mehr Szenen um Jeremy. Doch auch die anderen Figuren trifft man schon - und Jeremys Geschichte erstreckt sich auch in andere Teile der Karte." Und am Ende hängt natürlich alles zusammen. "Als wir das Skript verarbeiteten, ergab das enorme Spreadsheets mit unzähligen Linien, die nur dazu da waren, sicherzustellen, dass alle Figuren zur rechten Zeit am rechten Ort waren." Dem Spieler will man hingegen keine Hilfestellung dabei geben, den Überblick zu behalten, ein Tagebuch etwa, in dem die Spielfigur sich die Dinge notiert, ist nicht mit von der Partie. The Chinese Room fand, dass man so Gefahr laufen würde, die Spieler aus dem Erlebnis zu reißen.

"Das Schwierigste war, dass wir dem Spieler keine Grenzen stecken wollten" - Dan Pinchbeck

15 Leute umfasst das Team, vier davon sind für die Umgebungsgrafik verantwortlich. Beeindruckend, auch wenn auf diesen Bildern deutlich höher aufgelöste Assets verwendet wurden.

Tatsächlich ist eine gewisse Plot-Verlorenheit sogar erwünscht. "Es ist unausweichlich, dass man die Dinge nicht in der chronologischen Reihenfolge erlebt. Zu Beginn des Spiels wird man Zeuge von Begebenheiten, die erst gegen Ende beginnen, Sinn zu ergeben. Das ist ein wirklich interessantes Risiko, weil wir von den Leuten verlangen, Dinge über mehrere Stunden hinweg im Kopf zu behalten", findet Pinchbeck. Bis hierhin kann ich nur sagen, dass der Titel tatsächlich wie aus einem Guss wirkt und die mysteriöse, nicht chronologische Erzählweise neugierig auf die nächste Vision macht, die sich hoffentlich wie das passende Teil eines Puzzles an die letzte fügt. Und wenn nicht, sucht man einfach weiter.

Als ich Pinchbeck frage, ob es ihn überraschte, dass Dear Esthers Modell friedfertiger und an Geschichten interessierter Spaziergehspiele mittlerweile eine eigene Nische darstellt, muss er schmunzeln. "Das ist fantastisch und überraschend, weil wir niemals dachten, dass wir... Dear Esther war nur eine Mod, die wir für eine coole Idee hielten. Die Tatsache, dass das mittlerweile eine Art Untergenre ist, verblüfft uns jeden Tag aufs Neue." Allerdings sieht er auch Bewegung in dieser noch recht jungen Gattung gar nicht so interaktiver Unterhaltung. "Es ist sehr interessant, wie sie sich bereits jetzt verändern. Die ursprüngliche Idee, umherzulaufen und dabei eine Geschichte zu erleben, wird gerade so viel subtiler, komplexer und vielfältig, mit Spielen wie Adrift und Ethan Carter", erzählt er. "Das bestätigt mich, dass dies nicht nur eine schräge, kleine Fußnote in der Welt der Spiele ist."

Titel wie Ethan Carter und Dear Esther polarisieren - auch Everybody's Gone to the Rapture wird das, viele sehen darin einfach kein Spiel, ihnen fehlt ein zentraler Gameplay-Loop, eine Mechanik, an die es seine als zu spärlich empfundene Interaktivität hängt. Pinchbeck stört das in keiner Weise. "Ich beschrieb [Rapture] bei uns im Team einmal als Adventure, woraufhin jemand einwarf, dass dies doch eigentlich nicht zutreffe. Ich entgegnete daraufhin, dass ich mit Dingen wie A Mind Forever Voyaging aufgewachsen bin - für mich stimmt das also schon. Überhaupt ist meine Reaktion [auf Kritik an der mangelnden Interaktivität]: Es gibt so viele Spiele da draußen, man muss nicht mit jedem Spiel alles angehen. Das ist vollkommen o.k." Im übrigen sei Everybody's Gone to the Rapture schon sehr viel interaktiver und offener als Dear Esther, weil man nicht nur die Richtung selbst bestimmt, sondern auch Türen öffnet, Apparaturen an- und ausschaltet und aktiv die Welt erkunden darf.

Was ist in Yaughton wirklich passiert?

"Der Grund dafür, das Spiel leicht an Mechaniken zu halten, ist folgender. Ursprünglich waren zum Beispiel die Kippsensor-Spielereien deutlich komplexer, fast schon dreidimensionale Puzzles, die mit zunehmender Spieldauer auch schwieriger wurden. Wir fanden allerdings heraus, dass die Spieler hier hängen blieben und schließlich frustriert waren, weil sie eigentlich nur zum nächsten Teil des Contents kommen wollten. Für uns geht es darum, die Leute möglichst schnell auf die Geschichte und die Welt loszulassen, ohne ihnen zu viele Barrieren zu errichten. Ich glaube, dadurch gestaltet man die Mechaniken automatisch einfach." Pinchbecks Wortwahl ist hier bezeichnend, "Content" - Inhalt also - ist für ihn allein die Geschichte, nicht etwa die spielerische Seite.

Und, wie er schon selbst sagt, das ist o.k., wenn er seine Philosophie folgendermaßen in einleuchtende Worte verpackt: "Es gibt genügend Spiele da draußen, das ist unsere Art, mit der Kritik umzugehen. Wir können uns keine Gedanken darüber machen, ein Spiel für buchstäblich jeden zu entwickeln. Uns ist es wichtiger, ein Spiel zu machen, das Fans dieser Art von Unterhaltung lieben werden."

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Alexander Bohn-Elias

Stellv. Chefredakteur

Alex schreibt seit über 20 Jahren über Spiele und war von Beginn an bei Eurogamer.de dabei. Er mag Highsmith-Romane, seinen Amiga 1200 und Tier-Dokus ohne Vögel.
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