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Underrail und das Bedürfnis nach Sicherheit

Das Fallout-wie-früher-Rollenspiel für alle, die es härter mögen.

Underrail dreht sich wie kaum ein zweites traditionelle Wege gehendes RPG von heute um ein Bedürfnis von Sicherheit. Im Großen kann man das auf die Bewohner der South Gate Station projizieren, die in einer fernen Zukunft unter der Erde leben, drumherum Tunnel voller Mutanten und Banditen. Ihr seid Neuankömmling dort, zu Beginn verpflichtet gegenüber dem Führungspersonal und dessen Wunsch nach Kontrolle und Erhaltung.

Im Kleinen dreht ich das Spiel auch für euch, eure Figur - welchen Namen ihr auch immer eingebt - um Sicherheit, und das aus spielerischen Gründen. Underrail ist einfach erbarmungslos.

Was man in Rollenspielen heute nicht (mehr) oft erlebt, ist die symbolische und tatsächliche Kraft eines "Safe Haven". Erst mit Demon's Souls wurde mir wieder richtig bewusst, wie wohlig es sich anfühlen kann, erschöpft über die Türschwelle zu stürzen, sei es nur mit minimalem Fortschritt seit dem letzten Nach-Hause-Kommen, aber man hat einen emotionalen Anker in der Spielwelt.

Die zweckmäßige Darstellung unterliegt einem ganz eigenen Charme und ist vor allem eines: wunderbar übersichtlich.

Underrail hält ebenfalls wenig von Sightseeing ohne Schweißvergießen, und wenn, dann müsst ihr euch diese Eindrücke verdienen. Hier zieht man immer wieder zurück dorthin, wo man zu Spielbeginn herkam, weil die Welt draußen gefährlich ist und keiner Vorsortierung für den Spieler unterliegt. So entsteht eine intimere Bindung zur Location, sei es besagte neunstöckige Station in Underrail, die Ranger-Zitadelle in Wasteland oder Goldtal in den ersten Stunden Pillars of Eternitys.

Möglich wird das, weil diese Spiele handgefertigte, bewusst in der Schwierigkeit schwankende Ecken und Quests lieben. In Underrail sieht es so aus: Stellt euch den Anfang von Fallout 1 vor und nun, die paar Meter von der Vault-Tür bis ins Ödland seien nicht nur diese paar Meter, sondern ein scheinbar endloser Verbund aus Höhlen mit unterirdischen Stützpunkten, Siedlungen und vielem mehr. Man gerät richtiggehend aus dem Tritt, wird in den Rundenkämpfen niedergemacht, in Gassen angepöbelt, ausgeraubt und erschossen. Ein Schritt zu weit in die falsche Behausung? Tot, bevor man "Du dämliches Arschloch" aussprechen kann. Endlich hat Schleichen wieder einen Sinn, besonders wenn es so klasse implementiert ist wie hier.

Underrail zeigt eine ungewohnte Härte darin, wie die Umwelt auf euch reagiert. Man muss wirklich schauen, wohin man geht, sich die Hörner bei kleinen Gegnern abstoßen, die schlimmen Bereiche unter "Später" verbuchen und sich auch einfach mal durchwurschteln. Irgendwo kommt man immer weiter, das aber nur mit Engagement, viel Vor und Zurück und der Akzeptanz, dass sich manche Probleme nicht sofort lösen lassen.

Ein hartes Pflaster erwartet euch, aber wer sich durchbeißt (oder -quatscht, soweit möglich), wird mit einem systemisch sehr beherzt designten RPG belohnt.

Trotz Kampfbetonung gibt das Charaktersystem genug her für unterschiedlichste Builds. Mein Messerstecher mit Ausweichfokus schlug sich in den ersten Stunden ganz passabel, zumindest gegen Rattenhunde, Rieseninsekten und den vereinzelt in der Ruine stehenden, vor sich hinblutenden Banditen ohne Verstärkung. Die sozialen Fertigkeiten von Überreden bis Handelsgeschick hatten nicht den größten Erfolg, aber da stecken auch noch nicht so viele Punkte drin.

Wer Fallouts frühe Tage vermisst, dürfte hier zufrieden sein. Der Charakterfortschritt verläuft ähnlich. Mehr als zwanzig Fertigkeiten kämpferischer, geistiger oder technikorientierter Natur - darunter etwa Pistolen, Armbrüste, Taschendiebstahl, Schleichen, Gedankenkontrolle und Einschüchtern - erlauben eine Spezialisierung oder möglichst breit streuende Aufstellung nach eigener Fasson. Gemäß dem gestalterischen Grundsatz, die Spielwelt mit unterschiedlichsten Möglichkeiten der Interaktion auszustatten, kann elektronische Schlösser nur knacken, wer Hacken beherrscht, altmodische Schlösser lediglich, wer Dietrich und Kenntnisse hat. Eine Vorüberlegung, wie euer Charakter ausgerichtet sein soll, ist besonders wichtig, da es keine Begleiter gibt.

Alle zehn, zwölf Stunden gibt's einen Punkt für sieben Attribute - zum Beispiel Stärke, Konstitution oder Intelligenz -, also ist hier im Nachgang nicht so viel zu richten. Feats sind, was Fallout einst als Perks einführte: kleine permanente Boni beim Level-up, etwa "Gunslinger" (reduziert die nötigen Aktionspunkte im Umgang mit Pistolen) oder "Weaponsmith" (selbstgebaute Messer und Abrisshämmer haben 5% höhere kritische Trefferchance). Es gibt über 100 Feats.

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Obwohl ich in den paar Stunden nur zwei Charakter-Builds ausprobierte, glaube ich nicht, dass die Geschichten über Schurkencharaktere, die verstohlen durch Lüftungsschächte schleichen und aus dem Dunkeln zuschlagen, wild erfunden sind. Das System ist verständlich und intuitiv, belohnend und überaus befriedigend. Und selbst wenn man keinen kompletten Lieb-mich-Kerl à la Fallout 2 bauen und sich so durchquatschen kann wie in Age of Decadence - die Fülle in die Breite gehender Systeme ist unterhaltsam aufeinander abgestimmt und macht einfach Spaß. Wie eine Art Best-of der Dinge, die Rollenspiele besonders machen.

Ohne Übersichtskarte schärft Underrail ein Gefühl für Größe und Zusammenhang, auch weil man die Gebiete zigmal durchqueren wird. Niemand stoppt euch dabei, fast egal in welcher Richtung, abgesehen vom Unvermögen im Kampf gegen all die Gefahren.

Diese Offenheit in Regelwerk und Aufbau ist es, die mich selbst ohne Ziel und mit Distanz zum Geschehen - in den ersten acht Stunden passiert eben nicht so unglaublich viel - blendend unterhielt. Man spürt, der zuständige Entwickler Styg wollte mit vertrauten Mitteln etwas Besonders schaffen, dem das stückweise Zusammensetzen der Spielfunktionalitäten über schnellen Erfolgserlebnissen stand.

Sich mit aller Kraft durch die erste Gruppe Mutanten zu kämpfen oder im Schleichgang zwei Psi-Käfer zu umgehen, ohne dass sie nach Verstärkung quieken (äh, wie genau nennt man das bei Käfern?) können, ist ein ganz eigener Triumph. Ebenso wie das Im-Blick-Behalten der Geschehnisse, schätzt man es Schwarz auf Weiß in Tagebuchform.

Auf den ersten Blick ganz schön erschlagend, was? Auch Crafting greift tief in die Möglichkeiten des Spiels ein.

Man muss Kollegen wie Pillars oder Wasteland dagegen schon fast als umsorgte Mainstream-Erscheinungen begreifen. Sie lassen euch nie hängen, aktualisieren ihre Tagebücher, sowie neue Informationen oder Direktiven zur aktuellen Quest vorliegen. Nehmt euch mal von Underrail eine mehrwöchige Pause, ohne emotional besonders in die Welt involviert zu sein. Bei eurer Wiederkehr gibt es nur einen Stichpunktzettel, auf dem dann etwas steht wie "Erfülle die Aufgaben, die Gorsky dir erteilt". Keine Ahnung, wo Gorsky in dieser frühen Hauptquest steckt oder bei wem sie startete? Viel Glück beim Suchen. Auch hier findet sich die Zurückhaltung der ersten beiden Fallouts wieder.

Und so stellt sich Underrail gegen das Spielen "nur mit dem halben Hintern", falls diese Unterscheidung vor dem Hintergrund eines Old-School-Rollenspiels überhaupt relevant ist. Es mag nicht das technisch raffinierteste Indie-RPG dieser Tage sein und sicher keines mit mehr Komfort als unbedingt nötig. Vergesst praktisches Gruppen-Looting oder Pop-ups zum Item-Vergleich. Vergesst nicht nur Quest-Pfeile, sondern auch, wofür sie stehen: Bequemlichkeit, Zeitersparnis und so etwas. Es gibt nur eine Bewegungsgeschwindigkeit für den Spielercharakter: Gehschritt.

Stellt euch darauf ein, genau hinsehen und lesen zu müssen, und ihr erhaltet für knapp 14 Euro einen zwischen Iso-Dungeon-Crawler und Fallout angesiedelten Grund, es mal wieder langsamer und bedächtiger angehen zu lassen. Ich kann nicht behaupten, es bislang bereut zu haben.

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Sebastian Thor Avatar
Sebastian Thor: Steht auf Bier und Bloodsport. Mag weiche Sofas und verliert sich gern in Gedanken an dies und das. Seit 2014 bei Eurogamer dabei, aktuell als freier Redakteur.
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