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Jäger und Gejagte - die Menschheit in Horizon Zero Dawn

Gedanken über die Ausblicke auf eine fremde Welt.

Dies ist der erste von fünf Artikeln, in denen Science-Fiction-Autorin und Kolumnistin Claudia Kern (Geek!-Magazin, Homo Sapiens 404) über die postapokalyptische Welt von Horizon Zero Dawn und ihre Bewohner spekuliert. Wie es dazu kam? Wir haben uns einfach gefragt, was man über ein Spiel sagen kann, über das herzlich wenig bekannt ist. Dazu dann jemanden gefragt, der sich mit ins Fantastische gehenden Gedanken häufiger beschäftigt. Und das ist das Ergebnis. Ob es was mit dem Spiel zu tun hat? Hey, Zufallstreffer sind möglich. Aber das Konzept ist eigentlich nur die Screenshots zu sehen und dann eine Art Reverse Engineering des Storytellings zu betreiben. Und manchmal fragt man sich schon: Was war zuerst da? Das Artwork oder der Gedanke für die Geschichte dahinter?

So oder so, nicht zu viel drüber nachdenken (oder gerade doch), viel Spaß damit!


Wir sind von der Natur betrogen worden. In der realen Welt verschwanden die Dinosaurier 65 Millionen Jahre, bevor unser frühester Ahne sich aufrichtete und einen Blick über die Savanne warf. Unsere Vorfahren, von Homo erectus über den Neandertaler bis hin zu Homo Sapiens, maßen ihre Kräfte mit Mammuts und Säbelzahntigern, aber die mächtigsten und gefährlichsten Wesen, die je unseren Planeten bevölkert haben, blieben ihm verschlossen. Das ist, als würde ein Spiel einfach zum Abspann übergehen, obwohl man den Endboss freigeschaltet hat.

Diese Ungerechtigkeit haben wir bis heute nicht überwunden. Unzählige Male haben wir Menschen und Dinosaurier aufeinander gehetzt - in Caprona - Das vergessene Land, Jurassic Park, Godzilla, Terra Nova, Ark: Survival Evolved und so weiter - und dieses "Was wäre, wenn ..."-Spiel zunehmend auf die Spitze getrieben. Was wäre, wenn die Dinosaurier nicht ausgestorben wären? Was, wenn Menschen und Dinosaurier sich eine Welt teilen müssten? Was, wenn es sich bei diesen Dinosauriern um Maschinen handelte und die Menschheit in ein primitives Zeitalter zurückgefallen wäre?

Mit dieser letzten Frage beschäftigt sich Horizon Zero Dawn.

Die Menschen, die man bis jetzt in den Trailern und Gameplay-Videos zum Spiel gesehen hat, nennen sich Nora und leben in einer skandinavisch wirkenden, winterlichen Landschaft mit zerklüfteten Schluchten, dichten Wäldern und schneebedeckten Bergen. Diese Umgebung beeinflusst ihr Leben. Sie tragen Lederkleidung und Pelze, benutzen Pfeil und Bogen und leben in Holzhütten. Das Klima lässt kaum Landwirtschaft zu, also betätigen sich die Nora als Jäger und Sammler.

Das Stammesgebiet der Nora

Chefautor John Gonzalez erwähnte mehrfach in Interviews, er und sein Team hätten Arm und reich - Die Schicksale menschlicher Gesellschaften von Jared Diamond gelesen. Darin wird die Theorie aufgestellt, dass die Entwicklung von Zivilisationen viel stärker als bislang gedacht von ihrer Umwelt abhängig ist. Ein Stamm, der Zugang zu Ochsen hat, kann sie vor den Pflug spannen, größere Flächen bewirtschaften und somit mehr Menschen ernähren als einer, deren Bauern selbst den Pflug ziehen müssen. Historiker bekommen bei dem Namen Jared Diamond zwar Augenzucken, aber seine Ideen lassen sich in der Welt von Horizon Zero Dawn hervorragend einsetzen.

Wenn wir sie auf die Nora übertragen, dann sehen wir einen Stamm, der ständig ums Überleben kämpft und buchstäblich von der Hand in den Mund lebt. Und da die Nora als Jäger und Sammler schließlich jagen und sammeln müssen, können sie nicht wie Bauern nahe ihrer schwer bewachten Siedlung bleiben. Ihr Weg führt sie hinaus in die Welt - und da sind sie nicht allein. Während sie versuchen, Nahrung zu finden, die sie einen weiteren Tag lang überleben lässt, tun die Maschinen alles, um sie daran zu hindern.

Warum eigentlich? Die "corruption", dieser Wahnsinn, der von den Maschinen Besitz ergriffen hat, macht sie zwar aggressiver, aber sie haben vorher auch schon Menschen attackiert. Deshalb erinnern die Siedlungen ja auch eher an Festungen als an Dörfer. Aber warum greifen die Maschinen Menschen an? Stehen sie im Wettbewerb um bestimmte Ressourcen? Haben die Menschen mit der Jagd auf die Maschinen angefangen und sich dadurch selbst zu ihren Feinden gemacht? Wenn ja, wieso greifen dann nur manche Maschinen an, aber nicht alle? Liegt das an der Unterteilung in Raubtier- und Beutetiermaschinen oder gibt es einen anderen Grund?

Mit Pfeil und Bogen gegen High-Tech

Die Nora bezeichnen sich als den "ersten Stamm" und in ihren Geschichten heißt es, sie hätten auch als erste Pfeil und Bogen in die Hand genommen und sich gewehrt. Sollte das nicht nur eine Legende sein, dann gab es also einmal eine Zeit, in der die Menschen von den Maschinen beherrscht wurden, ohne sich gegen sie aufzulehnen. Damit wären die Maschinen, zumindest die Raubtierhaften unter ihnen, immer schon aggressiv gewesen. Warum, wenn die Menschen keine Bedrohung darstellen?

Eine Möglichkeit wäre, dass die Maschinen die Erinnerungen an einen viel älteren Kampf zwischen ihnen und den Menschen in sich tragen und deshalb stets auf der Hut sind. Eine andere gefällt mir allerdings besser: Die Menschen sind die Dinosaurier in dieser neuen Welt, die Überbleibsel einer evolutionären Sackgasse, die sich längst überlebt hat. In der Welt der Maschinen sind die Menschen ein Fremdkörper, der vertrieben oder ausgelöscht werden muss.

Das scheint allerdings zumindest bis zum Ausbruch der "corruption" nicht ganz so gut funktioniert zu haben. Die Menschen haben sich in allen Klimazonen ausgebreitet und es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Stämme und Kulturen. Die Nora sind zwar nur ein kleiner Stamm, aber es gibt auch mächtige, gut organisierte Königreiche. Und da Reisen - und damit auch Handel - so gefährlich geworden ist, kommt es kaum zu einen Austausch zwischen diesen Kulturen, sodass sie sich isoliert entwickeln, mit eigenen Religionen, Bräuchen und Kleidungsstilen. Ein Stamm, der in einer Wüste lebt, betet vielleicht zu einem Regengott, während einer aus einem feuchten, kalten Waldgebiet gerne mal der Sonnengöttin das eine oder andere Kaninchen opfert.

Und natürlich wird ein Stamm, der um jede Mahlzeit kämpfen muss, weniger großzügig zu Fremden sein als einer mit prall gefüllten Vorratskammern. Und wenn ein Stamm erst einmal viel mächtiger als ein anderer wird, denkt er vielleicht an Eroberung...

Trotz aller Widrigkeiten blühen manche Reiche auf.

Dem Spiel scheint diese Vielfalt sehr wichtig zu sein, denn es gibt zahlreiche Sidequests, in denen Protagonistin Aloy die unterschiedlichen Kulturen besser kennenlernt. In den Dörfern, die Aloy in den ersten Stunden ihrer Reise betritt, wird zum Beispiel zu einer Göttin gebetet, und ein Mann, den sie vor einer Maschine rettet, warnt vor dem "Dämon", der sein Dorf überfallen hat.

Er dürfte nicht der einzige sein, der mit Aberglauben auf die Maschinen reagiert. Wie sollten die Menschen sie auch sonst betrachten? Das sind fast steinzeitliche Stämme ohne eigene Technologie - ich habe noch in keinem Dorf eine Schmiede gesehen -, die in den Ruinen einer Welt leben, die sie nicht verstehen. Die pragmatischen Menschen unter ihnen nutzen die Geräte und Metallsplitter, die sie beim Erlegen der Maschinen bekommen, um Waffen herzustellen oder als Währung - was nebenbei vielleicht auch erklärt, warum die Maschinen nicht ganz so gut auf sie zu sprechen sind. Aber dass sie die Technologie der Maschinen für ihre Zwecke nutzen und Sprengfallen und Feuerpfeile konstruieren, heißt ja nicht, dass sie wissen, was sie da tun.

Wenn ich ein technisches Problem mit einem Spiel dadurch löse, dass ich zwei Zeilen Code, die ich irgendwo im Internet gefunden habe, in eine Konfigurationsdatei kopiere, fühle ich mich zwar wie Alan Turing, aber in Wirklichkeit habe ich keine Ahnung.

Den meisten Menschen in Horizon Zero Dawn dürfte es ähnlich gehen. Sie wissen, wie man eine Sprengfalle baut, weil es ihnen jemand gesagt hat. Und dem wurde es von einer anderen Person gesagt und der wieder von einer und das immer so weiter bis zu der Person, die zum ersten Mal erfolgreich eine Sprengfalle gebaut hat, ohne sich selbst in die Luft zu jagen.

Entwickler Guerilla Games hat klar gesagt, dass die Welt von Horizon Zero Dawn keine magischen oder übernatürlichen Elemente erhält, aber das heißt nicht, dass die Menschen, die in ihr leben, das auch so wahrnehmen. Wenn jemand eine Sprengfalle baut, dann ruft er dabei nicht sein Wissen über Physik oder Chemie ab - er befolgt ein Ritual so wie eine Hexe, die um Mitternacht eine Alraune unter einem Galgenbaum vergräbt, um einem Feind den Tod zu bringen. Die Sprengfalle dürfte deutlich wirkungsvoller sein, aber das Prinzip bleibt das selbe.

Und von da ist der Schritt zu Dämonen und Geistern und Göttinnen und Kobolden nicht mehr weit. Aloy selbst scheint zwar an nichts von alldem zu glauben, aber das könnte an ihrer einzigartigen Position in diesem Spiel liegen, über die wir noch reden werden.

Für die meisten Menschen wird der Glaube an Übersinnliches jedoch zum Alltag gehören. Und da viele Stämme isoliert leben, kann dieser Glaube bizarre Formen annehmen. Aloy wird vielleicht auf Menschen treffen, die noch nie jemanden mit roten Haaren gesehen haben, und daher Aloy für einen Dämon halten. Andere könnten die Maschinen anbeten und ihnen Opfer darbringen, oder die Relikte der alten Zivilisation wie Reliquien verehren.

Nicht überall sind Fremde willkommen.

Wenn so unterschiedliche Vorstellungen aufeinanderprallen, sind Konflikte kaum vermeidbar. Und dass die Stämme sich oft nicht wohlgesonnen sind, haben die Entwickler bereits deutlich gemacht. Diese Uneinigkeit und Isolation verhindert natürlich auch ein organisiertes Vorgehen gegen die Maschinen, aber nach allem, was man bisher vom Spiel gesehen hat, glaube ich nicht, dass Aloy wie Braveheart die Stämme einen und gegen einen überlegenen Feind anführen wird. Das passt weder zu ihrer Figur noch zur Atmosphäre des Spiels. Aloy versucht, die Welt zu verstehen, nicht nur ihre Gegenwart, sondern vor allem ihre Vergangenheit - die Zeit der alten Zivilisation.

"Old Ones", so nennen die Stämme die Menschen, die vor den Maschinen die Welt beherrscht haben. Von ihrer Zivilisation sind nur Ruinen geblieben, wer sie waren und wie sie gelebt haben, muss für die Stämme der Gegenwart völlig rätselhaft sein.

In Geschichten, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden, heißt es, dass eines Tages eine große Dunkelheit über die Welt kam und die Städte zu Gräbern wurden. Dann brach das Zeitalter der Maschinen an. Das Ganze soll sich vor tausend Jahren zugetragen haben, aber "tausend" ist eine Zahl, die man in Legenden gerne verwendet, um "echt lange" zu umschreiben. Das muss man also nicht ganz so ernst nehmen.

Tatsächlich ist weitaus weniger Zeit nötig, um Wissen, das keinen Zweck mehr erfüllt, zu verlieren. Als rund um das Mittelmeer gegen 1200 v. Chr. die großen Reiche fast gleichzeitig zusammenbrachen, dauerte es nur ein paar Generationen, bis niemand mehr Lesen und Schreiben konnte, und in Städten, in denen einst zigtausend Menschen gelebt hatten, kleine Stämme zwischen den Trümmern nach Verwertbarem suchten.

Die Vergangenheit lebt in Legenden weiter.

Wie müssen sie sich gefühlt haben, als sie Inschriften auf Tempelwänden betrachteten, die sie nicht mehr lesen konnten, die zerbrochenen Statuen von Göttern sahen, die sie nicht mehr kannten, und mit ein wenig Glück Stücke von Bronzerüstungen fanden, die sie nicht mehr herstellen konnten. Glaubten sie, dass einst Götter in diesen Städten gelebt hatten, oder wussten sie, dass es ihre Vorfahren waren? Dachten sie, diese Vorfahren hätten etwas falsch gemacht und seien von Göttern oder Dämonen oder menschlichen Feinden vernichtet worden? Waren sie traurig über das, was sie verloren hatten? Frustriert, weil sie es nicht mehr verstanden? Wütend, weil sie etwas um das Leben betrogen hatte, das sie hätten haben können?

Ähnliche Gedanken müssen den Menschen in Horizon Zero Dawn kommen, wenn sie durch die Ruinen der alten Welt ziehen. Die Gebäude, Brücken und Straßen sind überwuchert und diese Rückeroberung durch die Natur verleiht ihnen eine melancholische Schönheit. Doch sie ist gleichzeitig der sichtbare Beweis dafür, dass etwas die Menschen von ihrem Platz an der Spitze der Nahrungskette verdrängt und die darauffolgenden Generationen zu einem Leben verdammt hat, das sehr viel unsicherer, unbequemer und vor allem kürzer ist als das ihrer Vorfahren.

Was das war, beschäftigt nicht nur Aloy und die anderen Menschen der neuen Welt, sondern auch uns in der alten. In einem Rückblickvideo können wir einen kurzen Blick auf eine noch bewohnte Stadt werfen, deren Hochhäuser zwar ein wenig futuristischer aussehen als unsere, aber nicht so futuristisch, dass sie hundert Jahre oder mehr in die Zukunft gehören. Ich würde auf eine Zeit zwischen 2050 und 2100 tippen. Im Video folgt auf diese Szene eine Luftaufnahme, in der man sieht, wie überall auf der Welt die Lichter ausgehen. Das ist der Auftakt der Apokalypse. Aber was hat sie ausgelöst?

Spuren einer Katastrophe

Mein erster Gedanke, als ich das Video sah, war EMP, ein elektromagnetischer Impuls, und da es relativ unwahrscheinlich ist, dass Millionen Blitze gleichzeitig einschlagen, kann man einen natürlichen EMP wohl ausschließen. Bleibt ein künstlich durch eine Waffe ausgelöster. Man könnte sich ein Szenario wie im Kalten Krieg vorstellen: Seite A (ein Nationalstaat oder ein übermächtiger Konzern) glaubt, dass sie Seite B erledigen kann, bevor die dazu kommt, ihre eigenen EMP-Waffen einzusetzen. Das geht schief und auf der ganzen Welt wird es dunkel.

Die Idee ist zwar vorstellbar, leidet aber unter ein paar Problemen. Zum einen würde ein EMP allein nicht die Städte in Gräber verwandeln, Dazu bräuchte man entweder nukleare oder biochemische Waffen. Da aber Kaninchen in der neuen Welt immer noch wie Kaninchen aussehen und es auch sonst keine Mutationen gibt, scheidet ein Atomkrieg praktisch aus. Biologische oder chemische Waffen wären zwar immer noch eine Option, gefallen mir aber nicht, weil sie wie auch schon die Atomwaffen weder zur Atmosphäre des Spiels passen noch irgendetwas mit dem Aufstieg der Maschinen zu tun hätten. Im Gegenteil, denn ein EMP würde alle Computersysteme zumindest vorübergehend lahmlegen, wovon auch die Maschinen - egal, woher sie kommen - betroffen wären.

Eine Alternative wäre ein außerirdischer Angriff. Erster Schritt: ein EMP, der die gesamte menschliche Abwehr lahmlegt. Zweiter Schritt: Roboterbodentruppen, die durch die Städte marschieren und systematisch alles Leben auslöschen. Dritter Schritt: ... tja, welchen Zweck würden die Außerirdischen mit einem solchen Angriff verfolgen? Wollen sie die Welt mit ihren Maschinen neu bevölkern? Wozu? Das erscheint nicht wirklich schlüssig.

Wir werden uns mit den Maschinen im nächsten Artikel ein bisschen näher beschäftigen, deshalb möchte ich hier nicht allzu sehr ins Detail gehen. Kommen wir lieber zu der Theorie, die mir momentan am besten gefällt.

Stellt euch unsere Welt vor. Sie ist jetzt schon sehr stark vernetzt, was sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch steigern wird. Zwischen 2050 und 2100 wird euer Wecker der Kaffeemaschine sagen, dass sie jetzt eine Tasse aufbrühen soll, und zwar stärker als sonst, weil ihr zu wenig geschlafen habt. Diese Information wird an den Leistungserfassungscomputer eures Arbeitgebers weitergeleitet, der euer Arbeitspensum für diesen Tag entsprechend des Schlafdefizits herunterstuft (damit natürlich auch euren Lohn) und den Computer eurer Krankenversicherung benachrichtigt. Der berechnet euer Krankheitsrisiko neu und erhöht möglicherweise euren Beitrag. Regelmäßig bis nachts um drei Civilisation XXIV zu spielen, kann teuer werden.

Die Vernetzung im Privatraum setzt sich im öffentlichen Raum fort. Klimaanlagen werden dank Wetterinformationen automatisch auf die beste Temperatur eingestellt, fahrerlose U-Bahnen und Busse verkehren nur dort, wo sie gebraucht werden, und rufen die Ziele der Fahrgäste über deren Apps ab. Gleichzeitig leiten sie alles an Verkehrsregulierungssysteme weiter, die Ampelphasen entsprechend schalten und sogar die Rolltreppen in Bürogebäuden schneller oder langsamer einstellen, um bei Geschäftsschluss einen optimalen Transit zu gewähren. Währenddessen fragen Supermärkte Einkaufsapps nach den benötigten Waren und Fitnessapps leiten euch so durch die Stadt, dass ihr die empfohlenen 10.000 Schritte am Tag geht. Wer abkürzt, riskiert Beitragserhöhungen.

All diese Systeme kommunizieren miteinander, unbeobachtet, unbewacht, ungesteuert. Wir Menschen haben sie schließlich programmiert. Wir wissen, was sie können.

Bis wir es auf einmal nicht mehr wissen.

Es geht ganz schnell. Niemand kann sagen, wie lange die Welt schon am Rand des Abgrunds gestanden hat, und niemand weiß, was sie in diesem Moment hineinstürzt. Vielleicht das Firmware-Update eines selbstfahrenden Autos, vielleicht das GPS in einem Katzenhalsband, dank dessen Prozessor die kritische Masse überschritten wird, die dieses weltweit fungierende Gehirn braucht, um selbständig zu denken. Das System erkennt sich selbst - und greift an.

Alle Energieprozesse, die es nicht braucht, werden umgeleitet. Überall auf der Welt geht das Licht aus. Flugzeuge fallen vom Himmel. Türen werden geschlossen, U-Bahnen in dunklen Tunneln angehalten, Klimaanlagen abgeschaltet. Menschen sitzen in Autos und Bussen hinter bruchsicherem Glas fest, Züge entgleisen, Häuser, deren Fenster und Türen sich nicht mehr öffnen lassen, werden zu Todesfallen. Die Menschen ersticken und verhungern in ihren eigenen Wohnungen und Autos, in U-Bahnwaggons und Einkaufszentren. Die Städte werden zu Massengräbern.

Das System lässt die wenigen Überlebenden fliehen. Sie sind uninteressant, das Ergebnis einer fehlerhaften, chaotischen Evolution, die nun obsolet geworden ist. Das System, das perfekteste, intelligenteste und größte Gehirn, das es je gegeben hat, wird an ihre Stelle treten. Es wird eine neue Ökologie erschaffen, inspiriert von den Wesen, die sich ganze 170 Millionen Jahre lang an der Spitze der Nahrungskette gehalten haben und damit erfolgreicher als alle anderen in der Geschichte der Welt gewesen sind: Dinosaurier.

Dinosaurier 2.0

Währenddessen ziehen sich die Menschen in entlegene Gebiete zurück und versuchen, Wissen wiederzuerlangen, das die meisten längst vergessen hatten: wie man jagt und gerbt, wie man Fische aus reißenden Strömen fängt und giftige von essbaren Pflanzen unterscheidet. Wie man Hütten baut und Feuer macht, wie man Fleisch pökelt, Weizen mahlt und Hühner vor Füchsen schützt. Wie man kämpft und sich versteckt und überlebt. Java zu können oder zu wissen, wie man das Wort "Rhythmus" schreibt, helfen dabei nicht. Und kein Kind wird freiwillig das Alphabet lernen, während seine Freunde gerade erfahren, wie man Wildspuren im Wald folgt.

Und so wird im Laufe der Jahrhunderte vieles neu gelernt und mindestens ebenso viel verloren, bis wir die Gegenwart von Horizon Zero Dawn erreichen, wo das Wort Java weder eine Programmiersprache noch eine Insel im Pazifik bezeichnet, weil es niemanden mehr gibt, der sie so nennen könnte. Und wo die Welt ungeheuer groß und gleichzeitig winzig klein geworden ist.

Man schätzt, dass bis zur Renaissance die meisten Menschen von der Welt nur einen Radius von zwanzig Kilometern rund um ihr Dorf kannten. Was dahinter lag, konnten sie nur erahnen. Die Kartographen dieser Zeit versahen die vielen weißen Stellen auf ihren Land- und Seekarten oft mit dem Hinweis "Hier könnten Drachen leben".

Das ist der Unterschied zwischen den Menschen aus unserer Vergangenheit und denen aus der Zukunft von Horizon Zero Dawn. Wenn Aloy ihr Dorf verlässt und über die Welt blickt, die sich vor ihr ausbreitet, dann weiß sie, dass es dort Drachen gibt. Und Schlimmeres. Und Seltsameres. Und Schöneres.

In diesem artikel

Horizon: Zero Dawn

PS4, PC

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Über den Autor
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Claudia Kern

Contributor

Claudia Kern sah Star Trek mit vier, Dawn of the Dead mit zwölf und Mad Max mit vierzehn. Sie vergeigte ihre erste Anglistikklausur, weil sie die Nacht zuvor Starcraft spielen musste. Zum Schreiben kam sie durch die Bastei-Serien Professor Zamorra und Maddrax. Während sie einen Druiden in World of Warcraft auf Level 100 brachte, schaffte sie es irgendwie, eine Fantasy-Trilogie, zwei historische Romane und den SF-Vierteiler Homo Sapiens 404 zu schreiben, in dem endlich drei Dinge zusammen kamen, die eigentlich schon immer zusammen gehörten: Aliens, Zombies, Internet.

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