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Get Even - Test

Der schachspielende Detektiv hinter den Spiegeln.

Eurogamer.de - Herausragend Badge
Ein sehr eigenständiger Mix aus Gameplay-Elementen wie auch inhaltlichen Versatzstücken, erzählerisch brillant, spielerisch solide genug.

Here we go again. Mit einem Monat Verschiebung nun die Würdigung, dass der Walking Simulator sich offenbar sehr gut mit Science-Fiction-Tech- und Psycho-Thriller kombinieren lässt und nichts dagegen hat, wenn auch noch ein wenig Stealth-Shooter-Action mit Gadgets und ein paar solide, fast schon Adventure-artige Puzzles mit in den Mixer geworfen werden. Dazu gibt es irgendwie, aber doch nicht richtig einen Episoden-Aufbau mit starkem Memento-Einschlag, was die Zeitlinie angeht. Genre-Fanatiker werden es mit diesem hier härter als sonst haben, denn selbst das übliche "Action-Adventure" will einfach nicht so richtig passen. Get Even ist etwas Eigenes und das ist schon selten genug heutzutage, vor allem im Bereich der Titel, die sich nicht als Indie bezeichnen können - und häufig sicher auch nicht wollen. Dass hier ein paar Dollar geflossen sind, merkt man schon.

Nicht zu viele Dollar. Technisch hat sich Get Even schon den Charme eines jungen osteuropäischen Studios gewahrt, was bedeutet, dass Ambitionen oft genug auf Möglichkeiten treffen, um dann von letzteren deutlich ausgebremst zu werden. Es kann halt nicht jeder CD Project oder 4A sein, aber andererseits, die waren auch nicht beim ersten Spiel gleich angekommen und wer weiß, wo es The Farm 51 im nächsten Projekt hin verschlägt. Derzeit aber müssen sie mit eher mäßig detaillierten Texturen, kleineren, etwas leblosen Arealen und mäßiger KI leben. Meh, Das ist sicher nicht alles, wenn man etwas zu erzählen hat. Und das hat Get Even.

Wie ich inzwischen schon zwei Mal schrieb, je weniger ihr über die Handlung wisst, je mehr ihr selbst erkundet, was eigentlich los ist, desto besser für euch. Der Startpunkt ist der eines Agenten-Thrillers. Es gab eine Entführung, ihr scheint in der Rolle des englischen - alles ist Englisch hier, die Orte und die Akzente - Söldners Black gleich zu Beginn des Spiels das Opfer entdeckt zu haben, allerdings genau dann, als die Bombe an ihrem Körper die letzten Sekunden nach unten tickt. Ein weißer Blitz und das eigentliche Spiel beginnt. Was ist passiert, was ist real, was nur eine verschobene Wahrnehmung, was ist der Funke Wahrheit, der euch weiterbringt? Get Even baut auf einer Reihe von Erzählebenen auf und es ist schon eine gewisse Leistung, dass dieses Kartenhaus innerhalb der Dutzend Stunden eines Durchgangs nicht in sich zusammenbricht, sondern stattdessen mit Geschick immer noch eine Stelle findet, an der es anbauen kann. Das sogar, ohne den roten Faden zu verlieren oder euch zu früh zu zeigen, was dieser am Ende eigentlich war.

Eine Voraussetzung aber müsst ihr mitbringen: Ihr müsst ihr gewillt sein zu lesen. Viel zu lesen. Ich gehöre oft genug zu der Fraktion, die Zwischensequenzen gerne wegdrückt, aber nur, wenn diese mir nichts zu sagen haben, was ich in den letzten 25 Jahren nicht schon zigmal gehört hätte. Get Even ist dagegen eines der Spiele, in denen ihr ein Puzzle in eurem Kopf zusammenfügen müsst, dessen Teile die Entwickler im Spiel verstreut haben. Falsche Spuren, Randnotizen und immer wieder sogar die Wahrheit ergeben die Bilder der relativ komplex gezeichneten Charaktere und wenn ihr hier nicht ein wenig eintaucht und anfangt, diese Verbindungen für euch zu ziehen, dann entgeht euch viel des Reizes, der Get Even so auszeichnet. Das Spiel verbildlicht das in einem speziellen Raum, den ihr immer wieder betreten könnt: Hier findet ihr alle Notizen, Hinweise und mehr aus den einzelnen Episoden, auf einer Tafel mit Bindfäden und Fragezeichen verbunden. Ihr sollt in diesem Sumpf aus Informationen und Fehlinformationen wühlen, man fühlt sich dabei auch wie ein Film-Noir-Detektiv, der immer den Eindruck hat, dass diese eine, entscheidende Information direkt vor der Nase sitzt, wenn man sie nur sehen könnte. Alles macht fast einen Sinn, man kann es förmlich greifen...

Nicht nur im Genre des Spiels selbst werden dabei die Elemente fröhlich gemixt, auch das Szenario geht weite Wege. Zwischen den ruinösen Fabrikhallen Mittelenglands, einem Silent-Hill-Asylum und High-tech-Bürotürmen bleibt das Spiel durchweg gewollt grau und dunkel, weiß dies aber seinen angestrebten Stimmungen entsprechend gut zu nutzen. Die Wechsel sind nicht abrupt, sondern bauen über mehrere Szenarien hinweg eine konstante Spannungskurve auf, trotz aller Fallstricke gelingt es den Entwicklern, die Handlung - nicht zuletzt mithilfe besagter Örtlichkeiten - kontinuierlich verschachtelt auszuschmücken. Ihr fühlt euch immer mehr wie ein Getriebener, selbst wenn ihr es eigentlich nie seid. Ihr dürft sogar innerhalb der Spielwelt die einzelnen Vistas erneut besuchen und nach Hinweisen stöbern, die euch entgangen sein könnten. Und trotzdem, es ist eines der Spiele, die es zur Kunst erklärt haben, euch wissen zu lassen, dass die Zeit tickt, selbst wenn ihr nie sicher sein könnt, was eigentlich Stunde null sein könnte oder wann sie wirklich naht.

Das Spiel selbst stellt sich dabei nach einer gewissen Eingewöhnungsphase nicht in den Weg, selbst wenn es ein etwas eigenwilliges Interface wählte: Ihr habt in der rechten Hand immer das Handy parat, das euch per Schwarzlicht-Sicht, Agentendatenbank, Karte und mehr Funktionen die Umgebung genauer erkunden lässt. Ihr müsst dabei keine Sorge haben, ständig was zu verpassen. Wenn es wichtig ist, wird euch eine Extra-Anzeige an dem virtuellen Telefon darauf hinweisen, dass ihr euch mal umgucken solltet. Die eigene Wahrnehmung ist dabei anfangs, dass ihr euch immer auf zwei Sachen konzentrieren müsst, die eigentliche Sicht vor euch und das kleine Bild des Handys in der Ecke. Das fühlte sich aber bei mir zumindest schnell natürlich genug an, dass ich bald nicht mehr darüber nachdachte. Nur dann, wenn ich eine Waffe hatte, die keinen Aufsatz für das Handy hatte.

Der schwächste Moment in Get Even ist einer, in den ihr nur ein oder zwei Mal überhaupt kommt, wenn ihr alles richtigmacht. Ganz realistisch könnte das häufiger passieren, denn auch wenn das Stealth komfortabel gelöst wurde, manchmal wird halt doch geballert. Dann verkommt Get Even plötzlich zu einem Mittelmaß-Shooter, dessen KI ihre Inkompetenz damit wettmacht, dass ihr selbst auf dem einfachen Schwierigkeitsgrad immer noch relativ schnell sterbt und sie aberwitzig genau schießen, auch auf große Entfernungen. Auf "normal" ist es fast schon realistischer Schaden, der euch mit einer Kugel von den Füßen haut. Spaß ist was Anderes, trotz des seltsamen Features der "Corner-Gun".

Diese Um-die-Ecke-Pistole hat einen Aufsatz für das Handy und zeigt darauf die Welt in klar definierten Wärmefarben. Alles, was leuchtet ist ein Gegner. Damit der euch nicht sieht, knickt der vordere Teil der Waffe ab. Sie schaut also um die Ecke während ihr in Deckung seid und über den Handy-Screen alles seht. Das funktioniert, ist aber sehr gewöhnungsbedürftig, da eure Bewegungen auf dem kleinen Screen um 90 Grad versetzt funktionieren. Trotzdem, setzt die kleine Karte und die Corner-Gun richtig ein und ihr müsst das restliche, seltsamerweise recht gut ausgestattete Arsenal des Spiels nie in Anspruch nehmen.

Inhaltlich ist das auch - vielleicht - gewünscht. Vielleicht, weil das Stealth-Ende wohl das "gute" Ende ist, aber das ist relativ. Die leicht unterschiedlichen Verläufe der Handlung und der Dialoge, die auf beide Spielarten folgen, sind interessant genug, dass in Get Even mindestens zwei Durchgänge stecken. Einmal mit Ballern und seinen Konsequenzen und einmal als das stille Mäuschen, das sich durchpirscht. Ein letztes Lob und einer der Gründe, warum bei Get Even vieles, was so verscheiden sein kann, hier gut Hand in Hand geht: Der Soundtrack von Olivier Deriviere, der oft genug mit seinem Talent den Mittelmaß-RPGs von Spiders einen Hauch Würde mitgab, ist fantastisch. Ihr habt stimmungsvolle Wechsel zwischen fast Silent-Hill-artiger Industrie-Kulisse, sanft aufbauende Streicher, die manchmal vielleicht ein klein wenig zu sehr mit der Emotion mitschwimmen und eine Friedhofszene, die so eigen wie denkwürdig ausfällt. Ganz großes Material, kann gar nicht den Vinyl-Release abwarten.

Cover image for YouTube videoGet Even | Release Date Trailer | PS4
Get Even - Launch-Trailer

Get Even ist ohne Frage eine Überraschung. Es ist nicht der halbherzige Deckungsshooter mit ein paar Horror-Elementen, nach dem es zunächst aussieht. Mal sehen, ob The Farm 51 hier den gleichen gutgemeinten Fehler begeht, wie Arkane bei Prey und eine Demo veröffentlicht, die niemals das zeigen kann, was das Spiel so auszeichnet. Es ist einer tiefgängigsten Psycho-Thriller, der sich in dieses für das Medium noch frische Thema verirrt hat und der wohl so auch nur hier funktionieren kann. Es ist das interaktive Element, das es euch erlaubt, die Versatzstücke dieser Jagd auf einen Keyser Söze selbst in eurem Kopf zusammenzusetzen und ihr bestimmt damit für euch, was ihr hier verfolgt. Das Spiel gibt euch zum Schluss die Auflösung und auch das ist wichtig. Es ist eine befreiende Katharsis für die Charaktere wie auch für euch als Spieler, dass Get Even eben nicht erklärt, dass das beste Mysterium das ist, das ungelöst bleibt. Es gibt eine finale Schleife um das ganze Paket und ihr werdet euch dann zurücklehnen und... sehen, wie ihr euch dann fühlt.

Die Reise an diesen Punkt war jedenfalls aufregend, spannend und zu keinem Zeitpunkt ermüdend. Es gab keine Minute, in der ich nicht wissen wollte, wie es weitergeht und meine einzige Sorge war - neben einer weiteren mäßigen Shooter-Sequenz, die ich meiner eigenen Ungeduld zu verdanken hatte -, dass es am Ende alles irgendwo zerfranst liegenbleibt und nirgendwo hinführt. Diese Sorge kann ich euch nehmen, den Rest lasse ich euch. Spielt Get Even selbst.


Entwickler/Publisher: The Farm 51/Bandai Namco - Erscheint für: PS4, Xbox One, PC - Preis: 29,99 Euro - Erscheint am: PC erhältlich, Konsole: 23. Juni - Sprache: Deutsch/Englisch - Mikrotransaktionen: Nein

In unserer Test-Philosophie findest du mehr darüber, wie wir testen.

In diesem artikel

Get Even

iOS, PS4, Xbox One, PC

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Über den Autor
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Martin Woger

Chefredakteur

Chefredakteur seit 2011, Gamer seit 1984, Mensch seit 1975, mag PC-Engines und alles sonst, was nicht FIFA oder RTS heißt.

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