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Shenmue 1 und 2 - Test: Ein Stück Videospielgeschichte (und was daraus zu lernen war)

Zu viel Ryolismus?

Ein um technische Unzulänglichkeiten bereinigtes Fenster in die Spielehistorie. Was sich dahinter verbirgt, wird aber nicht jedem zusagen.

Kein Shenmue war je ein wirklich gutes Spiel, weder heute noch damals.

Das ist die wichtigste gleichwohl schmerzhafteste der um interessante Erkenntnisse nicht gerade verlegenen Remaster-Versionen. Obwohl im Laufe der knapp zwei Jahrzehnte seit Erscheinen dieser geradezu dekadent überambitionierten Produktionen nahezu alles Sagenswerte gesagt und Schreibenswerte geschrieben wurde, umgab Yū Suzukis Magnum Opus doch stets eine Aura des Unantastbaren. Auf durchaus berechtige Kritik folgten unweigerliche "Ketzer, du hast das Genie dahinter nur nicht verstanden!"- und ähnliche Rufe; elitäre Beißreflexe, die eine reflektierte Diskussion über diese völlig überhöhte Reihe beinahe unmöglich machten.

Auch die Dreamcast selbst gab bislang eine prima vorgeschobene Ausrede beim missglückten Versuch her, Zugang zu dieser eigentümlichen Welt zu finden: Pff, natürlich kann man mit diesem archaischen Klump-Controller und der 4:3-Briefmarkenauflösung von Segas Kiste nicht vernünftig spielen. Mit ähnlich fadenscheinigen Begründungen versuchte ich mir erst vor knapp zwei Jahren schönzureden, warum die zähe Schnitzeljagd da auf dem Bildschirm nicht wirklich dem entsprach, was ihr vorauseilender Meilenstein-der-Spielegeschichte-Status versprach.

Obwohl ihr mit nahezu jedem Bewohner plaudern könnt, haben euch die meisten davon nicht mehr als Banalitäten zu berichten. Viel realistischer wird's nicht mehr. (Shenmue 1 & 2 - Test)

Dank der aufgepeppten Neuauflagen wird die Luft dahingehend nun verflucht dünn. Von den einstmals invasiven Ladezeiten bei jedem Betreten der zahlreichen euch offenstehenden Türen ist nicht viel mehr als eine kurze Schwarzblende geblieben, die Fieberkurven-Bildrate ist auf verlässliche 30 FPS abonniert und statt des für Dreamcast-Spiele ungewöhnlich starken Flackerns erwarten euch nun moderne Vorzüge wie ein 16:9-Bildformat oder ein durchaus gewinnbringend eingesetzter Bloom-Effekt. Oder anders: Viel besser hätten die Engländer von d3t Shenmue kaum glattziehen können, ohne Look and Feel der Vorlage zu beeinträchtigen.

Doch die Vorzüge der Portierung sind zugleich die Bürde der Originale. Ihrer "Ja, aber"-Argumente entledigt, stehen sie endgültig als jene kritikwürdigen Spiele da, die sie schon immer waren. Das ist weder Blasphemie noch klickgeile Freude am Stürzen einer Legende, sondern der längst überfällige Schritt zurück. Durch diesen Abstand können wir nicht nur die unvermeidbaren Unzulänglichkeiten einer fast 20-jährigen Reihe, sondern besser, nein, ehrlicher als zuvor auch ihre Qualitäten herausstellen. Und damit wir uns nicht falsch verstehen: Davon gibt es noch immer mehr als genug.

Aber doch, eine gewisse zähe Leidensfähigkeit müsst ihr dafür schon mitbringen, es nützt ja alles nichts. Für Teil 1 noch mehr als den geschliffeneren zweiten Teil, der die etwas pragmatische Informations-Schnitzeljagd seines Vorgängers um vieles davon erweitert, was man damals wie heute von einem Videospiel erwartet. In beiden Fällen schickt ihr den 18-jährigen, einsilbigen Ryo "I see" Hazuki auf der Suche seines Vatermörders Lan Di durch die ersten "Open-Worlds", die dieser Bezeichnung tatsächlich gerecht wurden.

Auf die in ihren Möglichkeiten begrenzte verschlafene japanische Hafenstadt Yokosuka folgte in der Fortsetzung das in jeder Hinsicht ausladendere Hongkong. Beiden Städten ist jedoch die an Versessenheit grenzende Detailfülle und ihre eigenwillige Definition von Realismus zu eigen. Während ihr der "Ich weiß von nichts, aber vielleicht hat Person XY ja etwas gehört"-Brotkrumenspur folgend nahezu jeden Bewohner ein Gespräch aufnötigt, euch durch gelegentliche Quick-Time-Events drückt und die mühsam beim Gabelstaplerfahren verdiente Kohle an Kapselmaschinen auf den Kopf haut, bekommt ihr ein ausgeprägtes Gespür für die Konsistenz dieser Welten. Bereits vor und nach Shenmue haben sich Packungsrückseiten mit vollmundigen "Jeder Charakter verfolgt seinen eigenen Tagesablauf"-Versprechungen geschmückt, doch nur die wenigsten setzten diese mit der hier verfolgten Kompromisslosigkeit um. Der krude Hafenarbeiter hebt nur zwischen 22:00 und 24:00 Uhr ein Bier in der schrammeligen Eckkneipe? Dann seht gefälligst zu, wie ihr die Zeit bis dahin totschlagt; ihr könnt nicht einfach in einem Menü ein paar Stunden vorspulen. Füttert lieber den nächstbesten Glücksspielautomaten oder schärft in einer Trainingsrunde eure holprigen Kampffähigkeiten, denen ihre Virtua-Fighter-Herkunft nur noch bedingt anzumerken ist.

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Diese aus heutiger Sicht verschrobene Authentizität bricht sich in jedem der inzwischen 1920x1080 Pixel Bahn. Shenmue stammt aus einer Epoche, als sich maximale Freiheit in Spielen in den Banalitäten des Alltäglichen manifestierte. Ihr könnt mit bereits für damalige Verhältnisse tollpatschiger Unbeholfenheit jede noch so unbedeutende Schublade aufreißen und anerkennend über die Detailversessenheit nicken, wenn eine kleine Schabe zwischen unterschiedlich etikettierten Konserven Zuflucht vor dem Licht sucht, das beim Öffnen der Küchenspüle in selbige fällt. Oder ihr fragt euch, was diese Zeitverschwendung soll und habt damit ebenfalls recht.

Bisweilen nimmt dieses Streben nach Realismus bizarre Züge an. Wenn ihr etwa besonders düstere Ecken erkundet und kaum mehr die Hand vor Augen erkennt, könnt ihr lange auf automatisch aktivierte Lichtschalter waren. Sofern ihr nicht die Anrichte eures Zuhauses durchwühlt habt, müsst ihr schon zum Kombini um die Ecke marschieren, eine Taschenlampe aus dem Regal (nicht einem aufploppenden Menü) greifen und bei der freundlich grüßenden Kassiererin bezahlen.

Im Laufe eurer Spielekarriere durch stetige Wiederholung angeeignete Konditionierung führt hier nicht zum normalerweise erwartbaren Erfolg, sondern lediglich in eine Sackgasse. Ihr könnt euch nicht auf neonfarbene Brüllmarkierungen verlassen, mit der uns moderne Spiele dieser Bauart in hübscher Regelmäßigkeit entmündigen (ein Vorwurf, den sich selbst der "geistige Shenmue-Nachfolger" Yakuza gefallen lassen muss). Das einzige, was euch Yū Suzuki und sein Team als lesenswerte Hilfestellung entgegenbringen, ist die Spielwelt selbst. Klar, eine Map gibt es schon, nur nicht am unteren Bildschirmrand. Vielmehr müsst ihr die Augen nach Tafeln mit einer Gebietskarte und lokalen Hinweisen offenhalten, wie sie in japanischen Ortschaften an jeder größeren Kreuzung angebracht sind.

All das macht Shenmue zu einer unleugbar mühsamen, aber lohnenden wie einzigartigen Erfahrung. Dessen war sich Segas Marketingabteilung bereits 1999 bewusst und proklamierte den größenwahnsinnigen Anspruch, hiermit ein neues Genre begründen zu wollen (ein Vorsatz, der bereits durch seine Formulierung zwangsläufig unterminiert wird). Auch wenn wir heute keine dem maximal bemühten Akronym F.R.E.E. ("full reactive eyes entertainment", kannste dir nicht ausdenken) zugeordneten Spiele spielen, so hat diesem nicht nur, vor allem aber das Open-World-Genre jede Menge zu verdanken. Und mehr noch als aus Shenmues Stärken konnten folgende Spiele aus seinen Fehlern lernen.

Erstmals drohen euch Ryos Gegner nicht nur auf Englisch, sondern auch im japanischen O-Ton, womit ihr endlich eine Alternative zur zweitschlechtesten Spielesynchro überhaupt habt (Platz eins belegt auf ewig das deutsche PS1-Metal-Gear). (Shenmue 1 & 2 - Test)

Alles an Shenmue war überambitioniert, "Normalität" keine Kategorie, in der Yū Suzuki dachte. Diese sich jeglicher Wirklichkeit verweigernde Hybris macht Segas kurzlebige Reihe zu einer der schillerndsten aller Zeiten und führte zugleich zu radikal unkonventionellen, vorwärtsgewandten Ideen. Der Großteil davon mag ebenso an den schroffen Grenzen des technisch wie spielerisch Machbaren gescheitert sein wie Shenmue als Ganzes, brachte unsere Auffassung dessen, wozu Videospiele imstande sind, aufgrund seiner Kompromisslosigkeit aber um Jahre voran.

Deshalb braucht es das längst überfällige HD-Remaster. Nicht weil ihr hier die beste Gelegenheit erhalten würdet, einen vermeintlich unverwüstlichen Klassiker nachzuholen. Shenmue ist kein Super Mario Bros. 3 oder Castlevania: Symphony of the Night, hat die nach ihm folgenden technischen Entwicklungen nicht in seiner eigenen, von äußeren Einflüssen abgeschnitten Zeitkapsel überdauert. Vielmehr das Gegenteil ist der Fall: Zu jedem Zeitpunkt ist man sich geradezu schmerzlich all jener Fortschritte bewusst, die Videospiele in den vergangenen 20 Jahren gemacht haben. Kaum eine Serie verkörpert die Schnelllebigkeit und Fortschrittlichkeit der Spielebranche besser als diese.

Sind die Shenmues gute Spiele? Nicht wirklich. Sind sie trotzdem spielenswert? Unbedingt.


Entwickler/Publisher: Sega AM2/Sega - Erscheint für: PC, PS4, Xbox One - Preis: ca. 30 Euro - Erscheint am: erhältlich - Getestete Version: PS4 - Sprache: Deutsch, Englisch und andere (erstmals auch mit japanischer Sprachausgabe, halleluja!) - Mikrotransaktionen: nein


PC-Spiele testen wir auf Lenovo Legion PCs und Laptops, die uns von Lenovo zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt wurden. Hier erfahrt ihr mehr über Gaming-Laptops 2018 im Allgemeinen und hier geht es zur Website von Lenovo Legion Gaming.

In unserer Test-Philosophie findest du mehr darüber, wie wir testen.

In diesem artikel

Shenmue

Video Game

Shenmue I & II

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Gregor Thomanek Avatar

Gregor Thomanek

Freier Redakteur

Trinkt gern Kaffee und liebt Videospiele, im Idealfall beides auf einmal. Ist für alles zu haben, was aus Japan kommt. Hat nie Herr der Ringe gesehen und findet, das sollte auch so bleiben. Gründet irgendwann einen Ryan-Gosling-Fanclub. Hat seine Katze "Yoshi" genannt, bereut nichts. Konsolenkind.
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