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Escape from Tarkov: DayZ trifft Destiny in der letzten Kneipe Pripyats

Gibt es so etwas wie "zu viel Kontrolle"?

Es ist ein altes Klischee, dass Spiele aus Osteuropa ihren Usern ohne Rücksicht auf Verluste die Verantwortung über fein verzahnte, komplexe Systeme überlassen und dabei wenig auf Politur und Einsteigerfreundlichkeit geben. Escape from Tarkov entsteht bei Battlestate Games (unter anderem sind hier ehemalige Stalker-, Metro- und BioWare-Entwickler am Werk) in Sankt Petersburg und hakt ebenfalls zwei dieser drei Boxen ab. Allerdings könnte es diesmal in Sachen Politur durchaus etwas werden, denn der Vorbestellern in der Beta zugängliche Survival-Looter macht momentan in Sachen Stabilität und Spielbarkeit einen seinem Entwicklungsstand durchaus angemessenen Eindruck.

Kann sich sehen lassen, ist optisch eine Idee markanter als PUBG, wenngleich technisch nicht ganz so weit. Viele Gegenstände poppen bislang noch recht spät ins Bild.

Begreift man erst einmal, worum es in EFT geht, ist es schon jetzt sehr gut spielbar und vermittelt gut, wohin die Entwickler mit diesem Spiel wollen: Im Kern ist EFT das lohnende Experiment, DayZs Hardcore-Survival-Ansatz mit Leihgaben aus der Militärsimulation mit dem rollenspieligen Loot-Reigen eines Destiny unter dasselbe Dach zu verfrachten. Nur ist alles hier, in bester russischer Entwicklungstradition, fast schon erschlagend detailfreudig. Auf jede Waffe packt ihr unzählige unterschiedliche und kryptisch abgekürzte Komponenten, die in Teilen wohl nur Berufssoldaten etwas sagen, tauscht Altes gegen Modernes, Holz gegen Polymere und bestimmt sogar, welche Munition ihr - sofern gewünscht - Kugel um Kugel - in die Magazine eurer Schießprügel laden wollt.

Selbstverständlich müssen in eurem Stash dafür die entsprechenden Gegenstände lagern, weshalb ihr euch immer wieder in die so genannten Raids werft - offen angelegte Karten in postapokalyptischen Sowjetumgebungen mit verschiedenen Startpunkten. Neben reichlich feindlicher KI - den spärlich ausgerüsteten, aber zahlreichen "Scavs" - sind natürlich auch noch andere Spieler auf Raubzug nach demselben Loot dieser Level-Instanz. Ihr entscheidet also, wie heimlich oder Rambo-mäßig ihr vorgehen wollt. Wollt ihr der Konkurrenz schnell, aber laut zuvorkommen, oder ihnen irgendwo verstohlen auflaufern? Das Überraschungsmoment ist von entscheidendem Vorteil, denn selbst die beste schusssichere Weste hält nicht ewig.

Bis man sich hier eingefuchst hat, vergehen Stunden. Ich habe immer noch Aufsätze im Inventar, von denen ich nicht sicher bin, was ich damit mache.

Ihr blutet aus, wenn ihr euch nicht bandagiert, Arme und Beine brechen und verursachen neben den Schmerzen, die euer Avatar für sein Umfeld gut hörbar artikuliert, auch andere Effekte. Ihr fangt etwa an zu zittern oder seid nicht mehr in der Lage zu sprinten. Zu wissen, wann man weitermacht oder wann man schleunigst einen der Extraktionspunkte aufsucht, ist von zentraler Wichtigkeit. Denn wenn ihr sterbt, ist alles, was ihr fandet und die Ausrüstung, die ihr in den Raid mitnahmt, verloren. Nicht erst hier kommen die diversen Händler ins Spiel. Für gewöhnlich versetzt ihr einfach das Loot, das ihr nicht braucht, bei ihnen und ersteht je nach Verkäufer und deren Verhältnis mit euch andere Vorräte wie Nahrung, Getränke und Waffenteile unterschiedlicher Güte bei ihnen.

Wichtiger ist aber fast noch, dass sie eure Ausrüstung auch gegen Spielwährung versichern. Geht ihr an einer Verletzung zu Grunde, bevor ihr den Ausgang erreicht, verdurstet oder verhungert ihr oder werdet einfach nur von den Gegnern überrollt, bekommt ihr ein bis zwei Tage nach dem Tod eures Charakters die Items zurück - vorausgesetzt, ein anderer Spieler hat sie nicht vorher gelootet. Es kann sich lohnen, seine wertvollsten Dinge irgendwo im Level zu verstecken, wenn man sich nicht sicher ist, dass man es in einem Stück aus dem Raid schafft. Zum Glück besitzt jeder Spieler einen Gamma Container, der ein paar Gegenstände fasst, die diesem System nicht unterliegen. Es lohnt sich, die schwierig zu findenden Schlüssel für Abkürzungen oder besonders lukrative Loot-Räume in diesem Container aufzubewahren. [Kleine Korrektur, da wir auf Twitter darauf hingewiesen wurden: Käufer der normalen Edition erhalten einen Alpha Container. Der fasst weniger Gegenstände als die Gamma-Ausführung, die der 109,99 Euro teuren Edge of Darkness Edition beiliegt. Das Prinzip ist allerdings dasselbe.]

Schleichen, warten, Luft anhalten während die Kollegen looten. Hauptsache ihr teilt am Ende auch gleichberechtigt.

Es ist ein Zyklus, der trotz der gerade zu Anfang sehr unbarmherzigen Erfolgssaussichten doch ziemlich fesselt. Will man nichts aufs Spiel setzen, mischt man sich einfach selbst unter die Scavs und ärgert im Raid ein paar Spieler, die mutiger waren. Was auch immer ihr als Scav mit aus einem Level nehmt, wandert genau so in euer Lager. Ihr nehmt nur in Kauf, dass ihr mit zufälliger und tendenziell schwacher Ausrüstung startet - und dass diese Spielvariante einem Cooldown unterliegt. Grind-geeignet ist das Scav-Dasein also nicht. Es ist vor allem eine clevere Lösung, um die verschiedenen Raids - in der Beta sind aktuell vier zugänglich, später sollen alle Karten zu einer großen zusammengefasst werden -, ihre Loot-Spawns und Ausgänge kennenzulernen.

Vor allem der Detailgrad an Kontrolle fasziniert. Mit dem Mausrad wechselt man nicht etwa Waffen, man bestimmt die standardmäßige Laufgeschwindigkeit des Charakters. Hält man dazu die Ducken-Taste, stellt man in mehreren Stufen ein, wie tief eure Figur beim geduckten Gang in die Hocke runtergeht. Das ist besonders wichtig, weil der Sound in EFT wirklich alles ist. Selbst zügige Drehungen eurer Figur sind vertont. Das Knirschen der Sohlen bei einer hektischen Drehung auf einem staubigen Fliesenboden, kann schon mal eure Position verraten. Es ist irrsinnig detailverliebt. Dass Hinlegen und das Lehnen nach links und rechts ebenfalls möglich sind, ist da schon fast Casual-Kram. Vor einer Tür stehend stellt sich immer die Frage, ob man sie langsam und leise öffnen oder laut eintreten soll. Sehr nett! PUBG sollte hier genau achtgeben.

Das Eintreten einer Tür klingt fantastisch. Auch die Animation dazu vermittelt schön viel Kraft.

Es gibt sogar Kopfhörer, die das Soundprofil des Spiels verändern, wenn euer Charakter sie trägt. Ehrensache, dass man die verschiedenen Munitionsarten für jede Waffe auch einzeln - Kugel für Kugel - ins Magazin laden darf. Ich kenne Tarkov-Spieler, die nehmen sich die Zeit, als letzte Kugeln eines Sturmgewehr-Magazins stets Leuchtspurmunition zu verwenden, als Zeichen, dass die Spritze bald leer ist. Warum? Na, weil es natürlich keinen Munitionszähler gibt. Überhaupt: Diese Ausrüstung! Es ist eine sehr verlockende Art von Gunporn, die hier zelebriert wird. Eine Art Hardcore-Version von Ghost Recons Gunsmith-Modus, denn hier verschiebt man die Eigenschaftswerte der Waffen ein bisschen spürbarer und ohne Tendenz zu dem einen "besten" Build.

Man hängt irgendwann sehr an seinen Waffen. Eine mühsam aufgerüstete Waffe, mit allen möglichen Sperenzchen von der Unterlauftaschenlampe bis zum Schalldämpfer oder der einen so flexiblen Scope-Kombination, die man so liebgewonnen hat, ist zwar nicht unersetzlich. Aber wenn sie futsch ist, wird es teuer und/oder mühsam, sie wieder zusammenzubekommen. Ich dachte eigentlich, damit wäre ich schon am Ende mit der Aufzählung an Besonderheiten dieses beflissen auf feinteilige, authentische Kontrolle zielenden Spiels, da fällt mir ein, dass ich über das extrem coole Nachladen noch nicht einmal gesprochen habe. Wenn es schnell gehen muss, die R-Taste zweimal drücken und ihr werft das leere Magazin achtlos, aber schnell zu Boden und gewinnt so eine wertvolle Sekunde.

Kein gutes Zeichen.

Normales Nachladen befördert den verbrauchten Projektilspeicher dagegen zurück ins Inventar, damit man ihn zwischen den Raids wieder mit Kugeln befüllen kann. Klar, dass es länger dauert, wenn der Charakter das Magazin erst in den Rucksack zurückpackt. Und natürlich gibt's auch reichlich RPG-Elemente, Werte wie Stärke, Ausdauer, Stressresistenz und so weiter steigert ihr automatisch im Level, sobald ihr in diesen Bereichen beansprucht werdet. Auch die Meisterschaft einzelner Waffen beurteilt EFT nach und nach, sodass ihr eine Menge Balken auf Anschlag und Zahlen nach oben treiben könnt.

Kommen wir direkt zu eurer Frage: Ja, man darf die Items im Inventar rotieren!

Die Mischung ist am Ende ein Spiel, das nicht selten an die ersten Schritte erinnert, die man vor mittlerweile fünf Jahren in DayZ tat: Teilweise ist man fast gelähmt vor Angst, den nächsten Schritt zu tun und alles zu verlieren, was man bisher sammelte.

Und doch macht man weiter. Der nächste Abschuss eines veritablen Loot-Pinatas kommt schließlich bestimmt und die Stimmung ist einfach wahnsinnig gut eingefangen, selbst wenn die Grafik auf Unity-Basis nicht ganz oben mitspielt und das Gunplay noch etwas mehr Gewicht und Griffigkeit vermitteln dürfte.

Ihr merkt schon, bis hierhin habe ich Escape from Tarkov genossen. Es läuft, abzüglich sporadischer Lags, schon recht gut, der Inhalt stimmt für die knapp 35 Euro, die das Spiel kostet, durchaus. Allein die Frage nach dem Endgame bleibt. Immer bessere Ausrüstung zu horten, die man sich irgendwann nicht mehr einzusetzen traut, aus Muffensausen, sie zu verlieren, dürfte mich nicht endlos motivieren. Aber bis es so weit ist, bleiben mir noch - vor allem im Squad mit Freunden - viele taktisch anspruchsvolle und spannende Raubzüge. Für eine ganze Weile ist das alles, was ich brauche.


Entwickler/Publisher: Battlestate Games - Erscheint für: PC - Geplante Veröffentlichung: Beta für Vorbesteller erhältlich - Preis: 34,99 Euro

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Alexander Bohn-Elias

Stellv. Chefredakteur

Alex schreibt seit über 20 Jahren über Spiele und war von Beginn an bei Eurogamer.de dabei. Er mag Highsmith-Romane, seinen Amiga 1200 und Tier-Dokus ohne Vögel.

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