Skip to main content

Forgotton Anne - Test: Von sprechenden Schals und Elektro-Flügeln

Reise in das Land des und der Vergessenen

In medias res. So nennt man das, wenn man in einem erzählerischen Medium mitten in die Handlung geworfen wird, ohne große Einleitung, ohne Vorstellung der Figuren, einfach so. Forgotton Anne beherrscht diese Disziplin ganz hervorragend und selbst nach etwa zwei Stunden Spielzeit habt ihr womöglich noch nicht ganz begriffen, worum es eigentlich geht. Ihr seid Anne und ihr arbeitet in etwas, das aussieht wie ein Leuchtturm und ihr könnt eine Energie namens Anima absorbieren und es gibt Rebellen und einer davon ist ein sprechender Schal ... worum es bei Forgotton Anne geht, verraten euch die Entwickler nicht auf einen Schlag. Ihr lernt es nach und nach schon, aber dafür müsst ihr euch erst einmal auf die Spielwelt einlassen.

Anne und ihr Ziehvater wollen aus der Welt der Vergessenen irgendwie entkommen. (Forgotton Anne - Test)

Das funktioniert vor allem deshalb einigermaßen gut, weil es in hübscher Animé-Optik daherkommt. Nicht nur während irgendwelcher Zwischensequenzen, auch während ihr euch in 2D durch die Spielwelt bewegt. Es sieht immer irgendwie aus, als würdet ihr gerade einen japanischen Zeichentrickfilm sehen, einfach super. Und es spielt sich ein wenig wie eine Mischung aus Limbo, einem Klick-Adventure eurer Wahl und der Urversion von Prince of Persia. In letzterem liegt vielleicht das größte Problem von Forgotton Anne. Das ist nämlich nicht so sehr die eingangs erwähnte Geschichte, die sich erst nach und nach selbst erklärt, es sind vielmehr die damit verknüpften Mechaniken. Forgotton Anne steuert sich hakelig und unpräzise. Ihr habt zwei verschiedene Sprünge zur Verfügung, einen ganz normalen und einen erweiterten, den ihr aktiviert, indem ihr ein paar Metallflügel auf Annes Rücken ausklappt. Aber Forgotton Anne ist kein Super Mario, die Protagonistin springt in ihrer 2D-Welt manchmal gerade nach oben, manchmal erstaunlich weit nach vorne, aber es ist nicht immer klar, warum das passiert.

Ihre mechanischen Flügen helfen Anne beim Springen. (Forgotton Anne - Test)

Forgotton Anne will aber glücklicherweise ein bisschen mehr sein als nur ein Platformer, es enthält auch einige Rätsel. Anne trägt in ihrer Hand eine Vorrichtung, mit der sie die Energie der Welt (besagte Anima) kontrollieren, also vor allem ansaugen, speichern und wieder abgeben. Diese Energie lässt sich nutzen, um bestimmte Mechanismen zu aktivieren wie Aufzüge oder Türen. Viele Rätsel bauen auf dieser Mechanik auf - ihr holt euch Energie von Punkt A und gebt sie in Punkt B wieder ab. Die Entwickler erfinden das Rätselrad hier nicht neu, aber die Mechanik funktioniert. Auch deshalb, weil ihr per Knopfdruck gut sehen könnt, wo sich Anima befindet, die ihr in euch aufnehmen könnt und wo Punkte sind, wo sie gebraucht wird. Wirklich schwer werden diese Rätsel nie. Und das hat seinen Grund, denn den Entwicklern ist die Geschichte ihres Spiels wichtiger als die Mechanik.

Habt ihr das anfängliche Fremdeln mit den sprechenden Uhren und Socken erst einmal überwunden, wird deren tragikomischer Charakter deutlich. Ihr befindet euch in der Welt der Vergessenen. In dieser Welt landet automatisch alles, was ihr vergessen habt, entweder weil ihr das wolltet oder einfach so: der Teddybär, den ihr als Kind irgendwann nicht mehr mochtet, die alte Wanduhr eurer Urgroßmutter, die im Keller vor sich hin staubt, aber, besonders dramatisch, auch vergessene Menschen. Anne kam als Ausgesetzte in diese Welt, ihr Ziehvater Bonku war ein alter Uhrmacher, dessen Job nicht mehr gebraucht wurde. Eigentlich müsste die Welt der Vergessenen auch voller frustrierter Videothekenbetreiber sein, aber das hätte dem Spiel dann vermutlich doch viel von seinem Charme genommen ...

Per Tastendruck könnt ihr sehen, woraus ihr Anima ziehen und wohin ihr Anima übertragen könnt. (Forgotton Anne - Test)

Nicht alle Vergessenen wollen sich mit ihrem Status aber abfinden. Einerseits Bonku, der seine Lebenszeit in dieser surrealen Welt darin investiert, eine Maschine zu entwickeln, die die Ausgangstür sein soll. Andererseits aber auch rebellische Vergessene, die ihren Frust an Anne auslassen wollen, weil die nämlich von Bonku als eine Art Wächterin dieser Welt eingesetzt wurde. Wie sich Anne dabei fühlt und wie die anderen Vergessenen der Welt darüber denken, dass zeigen die Entwickler immer wieder in nett geschriebenen Dialogen, in denen ihr auch Entscheidungen treffen könnt. Je nachdem, ob ihr euch anklagend oder versöhnlich gebt, kann dies auch gewisse Auswirkungen auf die Handlung haben, wenn die einzige wirklich schwere Entscheidung auch erst am Ende des Spiels kommt - das nach grob acht Stunden erreicht ist.

Gegenstände wie diese Uhr haben auch schon mal verantwortungsvolle Jobs. (Forgotton Anne - Test)

Man könnte die teilweise doch sehr rührselige Geschichte des Spiels auch kitschig nennen, mich hat sie aber trotzdem gepackt. Man entwickelt erstaunlicherweise doch irgendwann ein gewisses Mitgefühl für die Figuren, selbst wenn es sich um vergessene Haushaltsgegenstände handelt. Und ihr wollt wieder zu ihnen zurückkehren, wenn ihr mal längere Zeit nichts von ihnen gehört habt, einfach um zu wissen, wie es ihnen geht. Großartig dazu passt die Spielmusik, die eigens vom Kopenhagener Philharmonie-Orchester eingespielt wurde. Manchmal fühlt es sich aber auch an, als arbeite diese Welt gegen euch. Wenn ihr nicht gerade in eurem Anima-Verteil-Modus agiert, ist die Umgebung recht schwer lesbar, wo Schalter für Türen sind, erkennt ihr nicht immer sofort und allzu oft ist nicht ganz klar, was ihr als nächstes machen sollt. Nach ein bisschen Erkundung der Spielwelt findet ihr das meistens heraus, aber es ist doch frustrierend, wenn ihr bemerkt, dass ihr eine halbe Stunde herumgeirrt seid, nur weil ihr irgendwo einen Schalter übersehen habt, der allzu sehr aussah wie Hintergrundgrafik.

In eurem Tagebuch wird notiert, worum ihr euch als nächstes kümmern solltet. (Forgotton Anne - Test)

Forgotton Anne ist ein wunderschönes Spiel, das mit seiner tollen Musik und seiner rührenden Geschichte wirkt wie ein kleines japanisches Kunstwerk. Es verlangt von euch aber, dass ihr, um dieses Kunstwerk zu genießen, über diverse Mängel beim Gameplay hinwegseht, allen voran die omnipräsente unpräzise Steuerung. Aus einer wunderschönen Welt wird in eurem Kopf zwangsläufig irgendwann eine hässliche, wenn ihr mehr als dreimal in Folge in einen Abgrund fallt, weil ihr es aus nicht immer erkennbaren Gründen nicht hinbekommt, den weiten Sprung so zu absolvieren wie es das Spiel von euch verlangt. Auf die ein oder andere Weise werdet ihr Forgotton Anne sicher in Erinnerung behalten, das Spiel wird also nicht in der von ihm selbst postulierten Welt landen. Aber es sind eben sehr gemischte Gefühle, mit denen ihr an Forgotton Anne zurückdenkt.

Schon gelesen?