Kingdom Come: Deliverance 2 hat mich in den Dreck geschubst, trampelte auf mir herum und dachte, ich hätte Spaß daran, mich wieder aufzurappeln. Die Sache ist: Dieses RPG hatte komplett recht damit!
90s-broken ist die beste Art von kaputt
Ich hatte schon lange kein so ambivalentes Spielerlebnis mehr wie jetzt mit Kingdom Come: Deliverance 2. Ich meine das nicht negativ, im Gegenteil. Ambivalent ist gut. Und ich musste seit vielleicht alten Dark-Souls-Tagen nicht mehr so hart für Erfolgserlebnisse arbeiten. Wer mich kennt, weiß, dass ich das einem Spiel sicher nicht ankreide, solange es fair ist. Kingdom Come 2 ist fair. Wenn man das Spiel verstanden hat. Aber das kann schon mal 20 oder mehr Stunden dauern. Wenn ihr euch also leicht abschrecken lasst und ein RPG in 40 beenden möchtet, dann gibt es wundervolle Alternativen. Aber wenn ihr für eine einzigartige Immersion in eine Spielwelt bereit seid zu arbeiten, dann herzlich willkommen nach Böhmen, wo drei Wölfe euch zerlegen, drei Räuber auch eine Armee sein könnten und es laaaange dauert, daran etwas zu ändern.
Die wichtigste Erkenntnis, die man in Kingdom Come 2 haben kann, ist, dass dies ein zu bestenfalls zu 70 Prozent logikbasiertes Spiel ist, aber ein zu hundert Prozent regel- und mechanikbasiertes. Wenn im Wald drei Wilderer hausen, ich einen töte, wegrenne und den nächsten Tag frisch wiederkomme, würde die Logik sagen, dass die beiden abgehauen sind, mein Quest-Item inklusive. Normale Spielregeln würden sagen, dass ihr wieder einen erledigen könnt, heilen, wiederkommen, bis keiner mehr übrig ist. Aber Kingdom Come 2 sagt F!!!U, alle drei leben, sind frisch und ihr habt Zeit vergeudet. Erledigt die Aufgabe richtig, so wie es der Entwickler sich gedacht hat. Regeln und Funktionsweise dieser Quest sind definiert, Logik oder Cheese nicht gefragt.
An anderer Stelle wurde es noch deutlicher. Zu Beginn sagt euch das Spiel, dass wenn ihr ein Bett freischaltet, dürft ihr es nutzen, um zu heilen. Cool. Das Erste ist bei einer Kräuterhexe, die euch wieder zusammenflickt, ihr verlasst diese, kommt aber nach kurzer Zeit wieder vorbei. Ihr redet nett mit ihr und sie gibt euch noch die für sie, so nehme ich an, durchaus relevante Quest, ihre verschwundene Tochter zu finden. Cool. Da ich etwas angeschlagen bin, wandere ich wieder in ihre Hütte, lege mich auf das Bett und stelle den Wecker auf hundert Prozent Heilung. Nicht cool. Am Abend kommt die Alte rein, rastet völlig aus, erpresst mich um mehr Geld als ich habe, rennt dann los, um die Wachen zu holen, die mich dann unter großem Gekreische erschlägt. Ich denke, zwischen der Abwägung, ob die Tochter zurückkommt oder die eigene Hütte unter dem Ruf als Möchtegern-Airbnb leidet, hat die Tochter verloren. Die Regel sagt, dass dieses Bett nur zum Lernen da war und danach ist es egal, in welcher Beziehung ihr zu dem NPC steht. Wenn ihr in seinem Bett schlaft, seid ihr ein Verbrecher, der an den Pranger gehört.
Kingdom Come 2 ist eine Art Immersions-Uncanny-Valley, weil es seine Welt so frei wie möglich definieren möchte, dafür aber natürlich gleichzeitig klare Regeln braucht. Es hat aber auch keinen Rollenspielleiter, der lenkend eingreifen kann, also zieht es seine Regeln durch, egal ob sie dann Sinn machen oder nicht. Darauf müsst ihr bereit sein und wenn ihr bereit seid, damit zu arbeiten, dann kommt euch das an der einen oder anderen Stelle auch entgegen. Das ist ein Gegenentwurf zu zuletzt Dragon Age, das seine Welt und Regeln so klar definiert hat, dass ein Ausbruch dem normalen Spieler gar nicht in den Sinn kommt oder überhaupt möglich ist. Beides hat seinen Reiz und seine Fallen und beides kann fantastisch sein, wenn man weiß, worauf man sich einlässt. Und Kingdom Come 2 ist fantastisch, daran will ich am Ende des Tages keinen Zweifel lassen.
Weiter im Text, die nächste Macke. Oder vielmehr Feature: Das Pacing ist semi-ideal. Ich weiß, was Kingdom Come hier versucht, aber man kann es auch übertreiben. Ich denke, mir fiel es leichter, mich durchzubeißen, weil ich diese Art von Spiel aus der Vergangenheit zur Genüge kannte, aber selbst nach 80er- und 90er-RPG-Maßstäben beginnt Kingdom Come 2 zäh. Ihr landet nach der ersten Stunde Intro halbnackt auf der Straße in einem winzigen Drecksdorf, mit einer eher vagen Idee, was zu tun ist, denkbar wenig Talenten und praktisch keiner Ausrüstung, die der Rede wert wäre. So weit, so üblich.
Aber das Spiel gönnt euch nichts. Oder vielmehr die Spielwelt, denn keiner kommt an und sagt „Hey, Held, hier ist ein magisches Schwert“. Mehr „Du Pisser stinkst ja zum Himmel“. Kann man auch nicht verübeln, man hätte sich auch mal am Bottich waschen können. Quests sind eher vage angedeutet und wehe, man wagt es wirklich zu kämpfen. Drei Wölfe bringen einen locker ins Grab, von drei Räubern mal ganz zu schweigen. Ihr seid ein Nichts in diesen Landen und das wird für eine ganze Weile so bleiben, zumindest bis ihr beginnt nach den Regeln zu leben.
Damit meine ich nicht (nur) die der Spielmechaniken, sondern auch die der Spielwelt. Ihr müsst einen Job haben, um ein Bett zu bekommen, wenn ihr nicht reich seid. Also sucht euch einen. 10 Groschen sind drei Mahlzeiten und wenn euch eine Quest so viel bringt, dann seid dankbar. Schwerter sind wertvolle Gegenstände, so wie Rüstungen. Eure sind Schrott, aber ihr bekommt so schnell keine neuen, das hier ist keine Loot-Orgie, haltet euer Werkzeug in Form. Geld habt ihr keines, also lernt mit einem Schleifstein umzugehen. Und wenn ihr einem Kampf ausweichen könnt, dann tut es, denn magische Heilung gibt es auch nicht. Das hier ist Old-School-D&D und ich meine 70s-Old-School, wo ein Ork ein Endgegner war und Level 2 zu erreichen mit einem Besäufnis nach dem Spiel gefeiert wurde.
Das gibt einem aber auch Zeit, die Welt kennenzulernen und das ist genau das Ziel, das Kingdom Come 2 in dieser Phase der ersten zehn bis 20 Stunden hat. Ihr lernt ein schlechtes Schwert zu schmieden, weil ihr kein Meister seid und das ist das Beste, was ihr hinbekommt, aber es bringt ein paar Groschen. Ihr tragt ein paar Mehlsäcke, weil es euch einen Schlafplatz bringt. Ihr feilscht, weil ihr so gut wie nichts habt. Und ihr redet mit alles und jedem, um mal zu gucken, was sonst so los ist, denn die Hinweise sind eher vage. Mit anderen Worten, ihr lebt euch ein.
Und ja, dann langsam nimmt auch alles an Fahrt auf. Ihr habt bessere Ausrüstung, erledigt auch schon mal ein paar Räuber und müsst nicht immer wegrennen. Selbst ein paar Quests tauchen auf und bei denen werden die Optionen aus Reden, Schleichen und Kämpfen auch langsam gangbar, weil ihr nicht mehr ganz unfähig seid. Diese Reise von Kann-Nichts zu Beinahe-Held ist hier weit intensiver und ausgeprägter als in praktisch jedem anderen RPG aktuell und ja, so sehr es mich manchmal auch nervte, ich habe es insgesamt absolut genossen. Es ist fast schade, dass ich mich langsam um die Belange von Königen und Fürsten kümmern muss und nicht mehr nur um die nächste Mahlzeit. Aber dazu später dann mehr.
Als jemand, der das erste Kindom Come vor dem Day-1-Patch gespielt hat und noch weiß, wie kaputt das Spiel mitunter war, hier noch ein essenzieller Hinweis zu Kingdom Come 2: Es läuft tadellos. Ich hatte bisher überhaupt keine Probleme jenseits ein paar so kleiner wie unbedeutender Grafik-Glitches und wir sind noch nicht mal auf Day-1-Patch hier. Keine Abstürze, keine kaputten Quests, keine Bug-NPCs. Wenn etwas passierte, das seltsam war, dann war ein Feature und kein Bug, innerhalb der angesprochenen Regeln, die manchmal nicht ganz mit einer realen Umwelt zusammenpassen wollten. Und schön sieht es auch noch aus. Sicher, Gebäude und NPCs sind jetzt nicht auf dem Level großer Triple-AAA-Produkte und vieles hat einen sagen wir mal osteuropäischen Look. Aber die Landschaften sind wundervoll und das Böhmen-Mittelalter-Flair kommt perfekt rüber.
So, ich muss mir was für den Test in ein paar Wochen übrig lassen, aber ich kann euch jetzt schon sagen: Alles, was man realistisch von Kingdom Come 2 erhoffen kann, wurde hier umgesetzt, plus ein klein wenig mehr. Dieses Rollenspiel ist auf die beste Art „90s-broken“, indem es viel versucht und umsetzt, von dem nicht immer alles klappt, aber kaum ein anderes Spiel es überhaupt erst probiert. Das macht es einem so leicht, die kleinen und nicht so kleinen Macken zu verzeihen, weil ich wirklich motiviert war, damit zu arbeiten.
Kingdom Come: Deliverance 2 gibt mir auch genug, um damit zu arbeiten und meine eigenen Wege durch Böhmen zu finden. Sicher, manchmal heißt dieser Weg auch „Cheese“, aber selbst dann war ich stolz auf mich, dass ich den Käse fand und auf das Spiel, das diesen, geplant oder ungeplant, bereithielt. Haltet euch also den Februar frei, ihr werdet eine Menge zu tun bekommen und eine Sache kann ich jetzt schon versprechen (wenn alles im Spiel so weiterläuft): Ihr werdet einen Test bekommen, in dem ich noch nie so viel an einem Spiel herumgenörgelt habe, nur um dann höchste Wertungen zu vergeben. Ich liebe Kingdom Come 2, absolut. Aber es ist ein ganz eigener Charakter, mit ganz eigenen Vorstellungen von dem, was ganz, ganz früher Rollenspiele wirklich ausmachte. Gut so. Der Versuch, das in die Gegenwart zu holen, scheint ein voller Erfolg zu werden.