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Point & Click: Die Adventure-Kolumne

Spiel mit Stil

Bei vielen Firmen ist die Spieleentwicklung ein Handwerk. Da werden Firmen beauftragt, die Material liefern, Musik, Texturen oder 3D-Figuren, das wird zusammengesetzt, in den Handel gebracht und im Releaseplan abgehakt. Da reiht sich Textur an Textur und Ecke an Ecke und alles zusammen ergibt dann irgendwie ein Spiel. Das muss noch nicht mal schlecht sein, vielleicht ist es sogar wirklich unterhaltsam, aber als Spieler neigt man dann dazu, das Spiel ähnlich schnell zu vergessen wie der Hersteller, nachdem sein Produkt kein Geld mehr in die Kassen spült.

Jetzt spiele ich gerade Das letzte Ritual: In Memoriam 2. Ganz ehrlich: ich weiß nicht, ob das für Lexis Numérique auch nur eine Geldkuh ist oder Inhalte von spezialisierten Firmen eingekauft wurden. Aber meine Fresse, das Ding hat Stil!

Die düsteren Collagen im Spiel mit ihren immer wiederkehrenden Motiven haben eine verstörende Bildsprache wie in kaum einem anderen Spiel. Das kryptische Flimmern verschiedener Bildelemente mischt sich mit leisem Wimmern im Hintergrund, mysteriöse, kaum verständlichen Tonaufnahmen, die klingen wie von einer arg mitgenommenen Langspielplatte, dröhnen durch den Hintergrund. Dazu kommen die nach jeder gelösten Runde gezeigten Videoschnipsel, die in mehreren Handlungssträngen die Suche nach einem wahnsinnigen Mörder dokumentieren. Diese erinnern überhaupt nicht an die vielen miesen interaktiven B-Filme der Multimedia-CD-Blütezeit, im Gegenteil: Die Schauspieler sind coole Säue, die dank verwackelter Handkamera-Ästhetik so viel Echtheit in die Szenen bringen, dass sie sämtliche Blair-Witch-Spinoffs vor Neid erblassen lassen.

Dazu der Internet-Teil: Im Vorgänger konnte ich noch 5 Kilometer gegen den Wind riechen, welche Webseite von den Entwicklern als Köder ausgelegt wurde. Jetzt teilt sich die Recherche auf Fake-Seiten, echte Seiten mit gefaketen Infos und auch mal Wikipedia oder Google Earth auf, wenn es reale Hintergründe zu recherchieren gibt. Sogar die Süddeutsche Zeitung spielt mit. Da wird man schnell paranoid und fragt sich, wo das Spiel aufhört und die Wirklichkeit anfängt. Sexy!

Wäre das hier ein ausgiebiger Testbericht, müsste ich wohl auch Schwächen in Lokalisation und Spielprinzip eingestehen oder schwer lesbare Schriftzüge kritisieren, aber heute Abend ist mir das egal. Die grandiose Atmosphäre dieses Kunstwerks hat mich ergriffen, gleich bin ich wieder auf der Suche nach dem Phoenix. Eine Schande, dass Das letzte Ritual spielerisch so speziell ist, dass es viel zu wenig Käufer finden wird. Ich hoffe trotzdem auf einen dritten Teil und ein ebenso stilvolles Experience112, das gerade beim selben Entwickler fertig gestellt wird.

Jan Schneider ist Webmaster von Adventure-Treff.de, der großen deutschen Website für Adventure-Spiele. Jeden Mittwoch macht er sich auf Eurogamer.de Gedanken über das Genre.

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