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Marvel's Avengers funktioniert bislang nur auf dem Papier

Destiny in zu engem Spandex.

Ich hätte gerne anders angefangen als mit einem langgezogenen "Oh je". Klar, schon letzten Sommer, als Marvel's Avengers auf der E3 erstmals angekündigt wurde, sprach ich von einem "Uncanny-Valley- Effekt für Marken", weil Iron Man, Cap, Thor, Black Widow und Hulk optisch zugleich zu nah und zu weit weg von ihren MCU-Gegenstücken waren. "Not my Cap" ging mir durch den Kopf, andere waren schnell mit "Avengers - The Porn Parody" bei der Hand - aber mittlerweile hatte ich mich mit diesem Spiel arrangiert.

Im Nachhinein habe ich selbst keinen Schimmer, wie ich es an Crystal Dynamics Stelle mit den Kostümen der Helden gehalten hätte. Was man zur E3 noch nicht wusste: Dieses Spiel will beherzt und frei durch die Comicgeschichte wildern und neben ein paar eigenen auch alle möglichen anderen Heldenlooks aus einer Lebzeit an Superheldenbüchern als wechselbare Kostüme implementieren. Warum also nicht die Filme zumindest ansatzweise als Ausgangspunkt nehmen? Nein, das war schon okay und auch die Geschichte, die gleich noch Ms. Marvel und ihre Expander-Gliedmaßen als recht coole Skills in dieses Avengers-Team integriert, lässt keinen Zweifel daran, dass dieses Spiel sein eigenes Biest sein will.

Zu viert hier durch zu marodieren - das ist der Optimalfall für dieses Spiel, auch wenn von einer echten Rollenverteilung wie in einem RPG nicht gesprochen werden kann. Jeder hier tritt Hintern und ist dabei auf seine Art verheerend.

Was das ist? Eigentlich eine coole Idee: Eine Art Destiny mit Geschichte, aber auch endloser Wiederspielbarkeit dank RPG-Stats, Loot und Ausrüstung unterschiedlicher Seltenheitsgrade. Nur eben nicht als Shooter aufgezogen, sondern als Character-Action-Spiel. Ein Brawler eher in der Richtung von Devil May Cry, mit Kontern, Paraden, Dodges, und doch mit Fertigkeitenbäumen und spektakulären Spezialfähigkeiten, wie man sie eher in einem Rollenspiel oder Hero Shooter zündet. Schreibt man das so runter, kann man sich Dutzende Szenarien vorstellen, unter denen das funktioniert und das hier zu meinem Lieblingsspiel für den Rest des Jahres wird. Nach gut vier Stunden mit der Beta fehlt mir momentan die Fantasie dazu.

Vielleicht wollten sie einfach zu viel? Das jedenfalls ist mein Eindruck bisher. Ich erlebe immer wieder coole Momente, die mein Fandom für Earths Mightiest Heroes bestens bedienen. Ich mag Kamala Khan, Ms. Marvel, die gewissermaßen als unerfahrener, naiver Publikumsavatar in die Reste der Avengers reinrutscht. Ich liebe ihren Gummikörper, der im Kampf einfach super cool aussieht. Wie er so mit Spaghettiarmen und -beinen um sich wirft oder gleich zwei Stockwerke in der Höhe anwächst, um Kräftegefälle zu einem haushohen Superroboter auszugleichen beispielsweise. Aber ich langweile mich auch zwischendurch immer wieder ein bisschen und frage mich angesichts der schwerwiegenden technischen Probleme und zahlreichen unfertigen Aspekte, wie das hier bis Anfang September bloß fertig werden soll.

Ms. Marvel ist den Designern sehr gut gelungen.

Ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll. Vielleicht beim Guten. Wenn es gut läuft, sieht dieses Spiel toll aus. Einige Set-Pieces sind wundervoll spektakulär, es kämpft sich mit den Charakteren allesamt ganz gut und die jeweils drei Superfähigkeiten, die ich in der Demo ausrüstete, sehen in der Anwendung wirklich toll und mächtig aus. Ich war überrascht über das durchaus technische Kampfsystem, das ich von Crystal Dynamics so nicht erwartet hatte und durchaus ein wenig von der Menge an Ausrüstungs-Loot mit unterschiedlichen Effekten überrumpelt. Insofern steckt hier vieles drin, was man anhand des Waschzettels an Features da oben erwartet hätte.

Aber irgendwie ermüdet es einfach, immer und immer wieder durch Horden gesichtsloser Roboter zu walzen und egal ob als Hulk oder als Natasha Romanoff immer drei, vier fünf Mal zuschlagen zu müssen, bis man mal jemandem das Licht ausknipst. Ich weiß, hier arbeiten im Hintergrund viele RPG-Regeln, und ich bin sicher, auf höheren Schwierigkeitsgraden muss man an seinen Helden-Builds auch gründlich feilen. Aber vordergründig, ist's alles erstmal nur *Smash*, egal, wie gut die Bewegungen der unterschiedlichen Helden auch eingefangen wurden.

Thor setzt seinen Widersachern mit Hammer und Blitzen zu.

Viele der Missionen der Beta spielen im Inneren grauer und austauschbarer High-Tech-Anlagen (so kann es schon mal kommen, wenn man viel, viel Content für ein Service-Game braucht), ein "epischer" Einsatz führte durch 100 Meter Wald und dann wieder in einen Bunker. Sehr episch. Die Ziele, die man während der Missionen erfüllt, sind allesamt generisch und nach ein bis zwei Missionen pro Session hatte ich immer wahnsinnig Lust auf eine Pause, egal, wie viel interessantes Loot auch aus den Feinden purzelte. Zudem beginnt jede der Nicht-Story-Missionen ziemlich lapidar nach einem Ausrüstungs-Intermezzo im Quinjet und endet genauso sang- und klanglos noch tief in einem feindseligen AIM-Bunker direkt mit dem Abschluss des Missionsziels in einer Schwarzblende. Allerdings weisen die Unterlagen, die Square Enix dem Beta-Code beilegte, auch darauf hin, dass vielerorts Filmsequenzen entfernt wurden, um die Story nicht zu verraten. Vielleicht fühlt es sich im fertigen Spiel runder an und nicht wie ein Dienstagvormittag im Superhelden 9-to-5-Job.

Dennoch, was den Inhalt vieler Missionen anging, blieb mit Ausnahme besagter Kampagnenmissionen und zweier Bossbegegnungen nichts hängen, Nebenziele in Form von Loot-Truhen - verborgen in Gebäuden, deren Tür ihr mit einem versteckten Knopf öffnet - wirken wie reingeworfen in die wenig bemerkenswerten Umgebungen. Höhepunkte oder der Eindruck, was Wichtiges geschafft zu haben? Fehlanzeige. Die Nebeneinsätze erzeugten keine Neugierde oder Spannung und der Spielfluss, den zum Beispiel Destiny so drauf hat und der einen unentwegt am Looten hält, kommt bei Avengers nicht auf. Bei aller Rollenspieltiefe, die hinter den Kulissen sicher drinsteckt, fühlte sich der eigentliche Ablauf austauschbar an. Und das, obwohl man das hier prinzipiell technisch gut spielen kann. Wie gesagt: In den paar Story-Missionen war ich interessierter dabei und bekam auch einiges vom erwarteten Spektakel. Aber sie sind auch nicht das Fleisch auf den Knochen dieses Online-Spiels, denke ich mal.

Es sind Superhelden, natürlich nehmen sie es mit vielen Gegnern gleichzeitig auf.

Sicher färbt auch der unfertige Zustand in diversen Designfragen und der allgemeinen Technik meinen ersten Eindruck erstmal ernüchtert. Es fehlt schlicht an allen Ecken und Enden an Fein-Tuning. Schon in einer der einleitenden Kampagnenmissionen kann man Serien von Walljumps versemmeln, die der Spielcode eigentlich ein wenig unterstützen sollte. Schließlich macht es keinerlei Spaß, solche reinen Spektakelstellen mehr als einmal durchzuexerzieren. Aber hier sind wir nun und können, wenn wir nicht aufpassen, zu weit vorne an eine solche Wand springen und haben dann weder die Kraft noch die Feinkontrolle über die Spielfigur (Hulk in dem Fall), um mit dem dritten und letzten Sprung dieser Serie das Ziel zu erreichen. Also zurück durch den Graben gerannt und die Stelle nochmal versucht. Fühlt sich hier nicht richtig an.

Seltsam ist auch das Verhalten des Loots: Zerdeppert ihr Kisten mit Ressourcen, fallen die erstmal auf den Boden und bleiben da kurz liegen, bevor sie euer Charakter einsaugt. Ich bin auf Plattformen geklettert, um dort Truhen wegen des Loots zu knacken, und habe mich dann wieder fallen lassen, um weiter im Level voranzuschreiten. Nur um zu sehen, dass die funkelnden Klunker immer noch oben lagen. Also nochmal hochklettern und den Tand einsammeln, diesmal richtig. Solche Sachen sind, hart gesagt, weder Gameplay noch Content. Aber derartige Dinge lassen sich mit etwas Detailarbeit noch vor dem Launch richten.

Cover image for YouTube videoMarvel’s Avengers - Beta Deep Dive Video | PS4

Was mir allerdings große Sorgen bereitet, ist die Performance. Egal, ob nun im 4K-Quality-Modus oder in der Performance-Variante: Avengers ruckelt eigentlich immer wieder mal auffällig und sehr störend. Denkt daran: andere durchaus technische Kampfspiele laufen nicht ohne Grund mit 60fps, während das hier bei im Optimalfall halber Bildrate läuft, in der Praxis aber teilweise die Übersicht stark einschränkend stottert. Im recht verwaschen wirkenden Performance-Modus wohlgemerkt. Die 4K-Variante habe ich nicht ausgehalten.

Aber hey, wenn ich meinen Helden nicht zutraute, bis zum Release am 7. September die Kurve zu kriegen und am Schluss doch noch den Tag zu retten, dann hätte ich den Großteil der geschätzt insgesamt 60-Male, die ich die 23 Marvel-Streifen geschaut habe, entweder verpennt oder nicht aufgepasst. Die Anlagen sind eigentlich da: Das Konzept überzeugt, die Entwickler lieben die Charaktere offenbar genauso wie ich und zusammen mit Freunden seinen eigenen Avengers-Trupp versammeln und entwickeln zu können - das hat schon seinen Reiz. Insofern: Ich bin mit meiner Hoffnung noch nicht am Ende. Aber wäre diese Entwicklung ein Film, das hier wäre der Moment für eine aufwühlende Rede von Cap.


  • Entwickler/Publisher: Crystal Dynamics/Square Enix
  • Plattformen: PC, Xbox One, PS4 (angespielt auf PS4)
  • Release-Datum: 7. September
  • Sprache: Deutsch, Englisch und weitere
  • Preis: ca. 60 Euro
In diesem artikel

Marvel's Avengers

PS4, PS5, Xbox One, Xbox Series X/S, PC

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Über den Autor
Alexander Bohn-Elias Avatar

Alexander Bohn-Elias

Stellv. Chefredakteur

Alex schreibt seit über 20 Jahren über Spiele und war von Beginn an bei Eurogamer.de dabei. Er mag Highsmith-Romane, seinen Amiga 1200 und Tier-Dokus ohne Vögel.

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