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Marvel's Spider-Man verkörpert alles, was Spidey und ein modernes Open-World-Abenteuer ausmacht

Netzaktivist.

Die Spider-Man-Spiele der jüngeren Vergangenheit waren ebenso fahrig wie die zugehörigen Filme und haben den Begriff "originalgetreu" damit ein wenig zu wörtlich genommen. Nicht jeder polygonale Auftritt der freundlichen Spinne aus der Nachbarschaft erschien als begleitendes Lizenz-Abfallprodukt einer millionenschweren Kinoproduktion. The Amazing Spider-Man 2 allerdings schon, der Kulminationspunkt einer qualitativen Talfahrt, der vor vier Jahren sowohl auf Konsolen als auch auf der Leinwand zum vorzeitigen Exitus eines bis dahin für nahezu unsterblich gehaltenen Universums führte.

Insofern ist bereits Insomniac Games' erzählerische Prämisse das erste einer ganzen Reihe guter Omen. Ihre Interpretation eines modernen Spideys ist nämlich keine, die auf eng abgesteckten Lizenzpfaden wandeln muss. Ausgestattet mit Marvels Segen, einer klaren Vision und den technischen wie künstlerischen Fertigkeiten, diese zu verwirklichen, erzählen die Kalifornier die eigenständige Geschichte eines gereiften Peter Parker. Mit 23 Lenzen auf dem schmalschultrigen Buckel hat der College-Student und Teilzeitweltenretter inzwischen ein Händchen dafür, beiden Disziplinen ausreichend Zeit in seinem knapp getakteten Terminkalender freizuräumen, vor dem Kampf gegen den "Villain of the week" noch flugs seine Stromrechnung zu bezahlen, business as usual. Anders als das ansonsten durchaus brauchbare Homecoming-Film-Reboot des vergangenen Jahres klemmt sich PS4-Spidey den hinlänglich bekannten Werdegang seines schnodderigen Protagonisten, danke dafür, und startet ohne zähe Origin-Expositionspampe ab Minute eins mit losgelöster Handbremse.

Spidey ist älter, nicht notwendigerweise reifer: Noch immer ist der Kerl um keinen Spruch verlegen. Nicht jeder davon zündet, ihr werdet aber auch keinesfalls das Verlangen haben, den Ton auszudrehen.

Oder wie würdet ihr einen Hunderte Meter tiefen Sturz in die Häuserschluchten Manhattans nennen? Es wäre ein verflucht kurzes Abenteuer, hätte Spidey seine Netz-Gagets auf dem Nachttisch vergessen, neben dem er vor fünf Minuten noch selig schlummerte. Gut für ihn und euch, dass sie an seinen Unterarmen auf ihren Einsatz warten, den Mittzwanziger auf Knopfdruck über das Wolkenkratzermeer katapultieren und euch neben ein paar Vogelschwärmen den im gleißend roten Licht der Morgensonne daliegenden Big Apple buchstäblich zu Füßen legen. Das und alles, was in den nächsten einführenden Minuten folgt, ist - man kann es nicht anders sagen - ein magischer Moment jener Sorte, wegen derer wir überhaupt Videospiele spielen. Anfangs noch ein wenig ungelenk, schwingt ihr schon bald mit vollkommener Anmut und einem nur schwer zu beschreibenden Gefühl von Freiheit zwischen in den Himmel ragenden Stahltürmen hindurch, als hättet ihr nie etwas anderes getan.

Selbst 14 Jahre nach seinem Erscheinen gibt es viele gute Gründe, sich an Spider-Man 2, das bislang einvernehmlich beste Spidey-Spiel, zu erinnern - aber keinen besseren als die großartige Schwingmechanik (deren Entstehung übrigens eine Geschichte ist, wie sie nur die Spielebranche schreibt). Dass Insomniac dieses System kommenden Monat endgültig übertrifft, liegt vor allem an den Feinheiten, die das Studio ihm hinzufügt. Das Halten einer Schultertaste ist weiterhin alles, was ihr zum Aufspannen des buchstäblichen Sicherheitsnetzes braucht. Für eine elegantere Art der Fortbewegung benötigt ihr allerdings ein paar weitere Tasten, was zwar den Anspruch, zugleich aber auch den Grad an Justierbarkeit und Kontrolle auf ein filigranes Niveau hebt, wie es bislang - wenn überhaupt - lediglich einige Filme einzufangen vermochten.

Fast ein bisschen schade, dass ihr New York die meiste Zeit lediglich von oben sehen werdet.

Spider-Man ist überhaupt geradezu unverschämt fotogen. Nicht auf jene geschönte Art, die wir höchstens in Trailern zu sehen bekommen, und schon gar nicht im Rahmen eines dem eigentlichen Spiel wenig zuträglichen Fotomodus'. Mit effektiven Kamerawinkeln und einem feinen Gespür für Timing erzeugt PS4-Spidey derlei Szenen scheinbar mühelos aus sich selbst heraus. Nirgendwo tritt das deutlicher zutage als beim Kampfsystem.

Zu sagen, das sei von den Batman-Arkham-Spielen inspiriert, wäre eine Untertreibung - zu behaupten, Insomniac hätte dem lediglich eine Handvoll Ideen hinzugefügt, aber auch. Wie beinahe alle Elemente, aus denen sie ihr Abenteuer zusammensetzen, haben die Kalifornier auch das von ihren britischen Kollegen bei Rocksteady erdachte Kampfsystem nicht nur adaptiert, sondern es sich mit etlichen kleinen und großen Unter-der-Motorhaube-Tweaks zu eigen gemacht. Klar, notfalls kommt ihr auch hier mit einer halbwegs rhythmischen Massage der Schlagtaste und gelegentlichen Seitwärtsrollen durch, was für akrobatisches Backenfutter allemal ausreicht. Der Spandexsportler ist aber weit agiler als die Reibeisenstimme aus Gotham, rutscht unter den Beinen verdattert dreinblickender Gegner hindurch, verpasst ihnen eine Zwangsjacke aus synthetischen Spinnweben oder reißt mit diesen ein Baugerüst ein, vor dem einfältige Feinde Stellung bezogen haben.

Das ist alles eine ganze Ecke potenter und um einige beeinflussbare Variablen reicher als das, was Batman bislang zustande brachte. Damit geht Insomniac zunächst einen großen Schritt auf kombolastige Kampfsysteme eines Devil May Cry oder Bayonetta zu, ohne euch jedoch acht Dutzend Tastenfolgen auswendig lernen zu lassen. Natürlich solltet ihr tendenziell schon wissen, wo die einzelnen Tasten auf dem Dualshock verortet und welche Funktionen ihnen zugewiesen sind. Weit mehr als eine heruntergebetete Komboliste belohnt Spider-Man aber gutes Timing, Übersicht und Kreativität. Oder anders: Schönes und effektives Kämpfen schließt sich nicht aus.

Nahezu jedes andere Spiel müsste sich den Vorwurf geschönter Screenshots gefallen lassen - Spider-Man sieht allerdings wirklich ständig so dermaßen stylisch aus.

Cineastisch ist gar kein Ausdruck für das, was euch mit diesen Mitteln möglich ist. Wenn das in seinen stärksten Momenten einem Rausch, einer einzigen Choreographie gleicht, dann deshalb, weil es genau das ist. Beeindruckender als die separaten Einzelaktionen Spideys ist die nahtlose Geschmeidigkeit, mit der sie zu einem großen Ganzen verschmelzen. Es sieht nicht ganz nach dem Hexenwerk aus, das uns der Einsatz der noch jungen Motion-Matching-Technologie demnächst bei The Last of Us 2 beschert, ist aber nah dran.

Es ist zudem eines der wenigen, nicht gerade im Überfluss vorhandenen Alleinstellungsmerkmale. Insomniac vereint hier zweifellos hochkompetent, beinahe aber ein wenig bequem zahlreiche etablierte Mechaniken aus anderen Spielen dieser Bauart und zimmert daraus ein gängiges Open-World-Action-Adventure™. Ihr schaltet mit gesammelten Erfahrungspunkten neue Fähigkeiten frei, könnt durch abgeschlossene Nebenmissionen sowie gefundene Sammelobjekte weitere Anzüge und Gadgets nutzen, und bevor jemand fragt: Ja, es gibt ein Äquivalent zu den berüchtigten Ubisoft-Türmen.

Trotzdem dürfte an dieser Stelle demnächst mindestens ein "Empfehlenswert" stehen, weil all das thematisch bombenfest im Spider-Man-Kosmos verankert ist und ihr nichts von alledem länger als fünf Minuten am Stück tut. Sofern die ersten zwei bis drei Spielstunden als Indikator für das Pacing des restlichen Spiels taugen, können wir gleichförmige Routinearbeit von der Liste potenzieller Probleme streichen. Auf einen Kampf folgt das Schwingen durch Manhattan folgt eine Schleichpassage folgt ein Reaktionstest folgt alles, nur keine Routine. Ihr könnt die auf kleinere Kopfnüsse abonnierte Mary Jane durch ein Museum scheuchen oder euch Peter Parkers sehr menschliche, gleichwohl nicht minder beeindruckenden Fähigkeiten im Laborkittel zunutze machen und in kleineren Geschicklichkeits-Minispielen diverse Boni freischalten.

Keine Kirsten Dunst oder Shailene Woodley, aber auch mit dieser Mary-Jane-Reinkarnation sollte man sich anfreunden können.

Etliche Kleinigkeiten wie diese zeugen von Insomniacs Liebe für Spider-Man und die Welt, in der er beheimatet ist. Mit kreativer Freiheit und Marvels Rückendeckung liefern sie die peppigste, frechste Interpretation einer zuletzt zusehends zwischen Lizenzmühlen zerriebenen Marke und fangen damit den eigentlichen Geist des Comics ein. Mehr Spidey als das geht nicht.

Letztlich ist Spider-Man aber auch eine prototypische Marvel-Produktion: eine kompromisslos auf Mainstream gebürstete, auf Nummer sicher gespielte Ansammlung hinlänglich bekannter Versatzstücke, die allerdings mit größtmöglicher Sorgfalt, künstlerischer und handwerklicher Kompetenz sowie brennender Leidenschaft für das Comicuniversum zusammengefügt wurden. Nein, Insomniac hat nicht vor, hier entscheidend an den seit Jahren strammstehenden Grundfesten des Open-World-Action-Adventures zu rütteln. Sie liefern aber eine, wenn nicht die beste moderne Blaupause dieses zuletzt sehr selbstgefälligen Genres - und ganz nebenbei das beste Spider-Man-Spiel überhaupt. Sorry, Spider-Man 2.


Entwickler/Publisher: Insomniac Games/Sony Interactive Entertainment - Erscheint für: PS4 - Erscheint am: 7. September 2018 - Angespielt auf Plattform: PS4 Pro

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Gregor Thomanek Avatar

Gregor Thomanek

Freier Redakteur

Trinkt gern Kaffee und liebt Videospiele, im Idealfall beides auf einmal. Ist für alles zu haben, was aus Japan kommt. Hat nie Herr der Ringe gesehen und findet, das sollte auch so bleiben. Gründet irgendwann einen Ryan-Gosling-Fanclub. Hat seine Katze "Yoshi" genannt, bereut nichts. Konsolenkind.
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