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We Are Chicago - Test

Alltägliches im Süden von Chicago - inklusive Bandenkriegen, Raubüberfällen und Schießereien.

Ein narratives Erlebnis mit stark veralteter Technik. Bei näherem Hinsehen: Eine Erzählung über einen schlimmen Alltag ohne Ausweg.

In Videospielen neige ich häufig dazu, als Draufgänger zu agieren, falls mir das Spiel die Wahl gibt. Ich gehe kaum einem Konflikt aus dem Weg, wenn mir ein NPC blöd kommt, ich lasse mich nicht ungerecht behandeln - im Notfall kann ich schließlich immer noch neu laden. Anders ging es mir komischerweise bei We Are Chicago, eine interaktive Erzählung, bei der es sich Entwickler Culture Shock Games zur Aufgabe gemacht hat, das unerfreuliche Leben als Afroamerikaner im Süden der namensgebenden Metropole zu thematisieren. Hier kommen mir auf der Straße Gangmitglieder entgegen, die ich als Spieler noch nicht einmal kenne. Und doch wechsle ich ehrfurchtsvoll die Straßenseite, ohne auch nur darüber nachzudenken.

We are Chicago lässt sich spielerisch am ehesten in der Nähe von Titeln wie Life is Strange oder den jüngsten Telltale-Veröffentlichungen einordnen. Systemisches Gameplay im eigentlichen Sinne fehlt nahezu komplett, stattdessen konzentriert sich das Spiel ganz auf seine Geschichte. In We Are Chicago schlüpft ihr in die Haut von Aaron, der gerade dabei ist, seinen Schulabschluss zu machen, und der gemeinsam mit seiner kleinen Schwester von seiner Mutter in einem kleinen Haus allein großgezogen wird. Die Familiensituation wäre an sich kein Problem, wäre da nicht das Umfeld. Gangs bekriegen sich auf den Straßen, Faust, Messer und Pistole sitzen locker und, wie Aarons Mutter sinngemäß sagt: "Man hört nicht halb so oft Polizeisirenen wie Schüsse auf der Straße."

Die Straßen von Chicago sind der Hauptschauplatz des Spiels.

We Are Chicago hat bei all dieser Tristesse gar keine große, allumfassende Geschichte. Viel mehr ist es die Aufgabe des Spielers, den Alltag zu meistern. Die Schule zu überstehen, die kleine Schwester Taylor abzuholen und nach Hause zu bringen. Und immer wieder schwierige Entscheidungen zu treffen: Taylor liebt den örtlichen Park mit dem Spielplatz, aber dort hinzugehen ist nicht ganz ungefährlich - denn eben dort treffen sich auch die Gangs. Wenn der Chef möchte, dass man am Abend noch zur Nachtschicht im Schnellimbiss erscheint, mag das einfach verdientes zusätzliches Geld sein, aber es bedeutet auch, dass Aaron bei Dunkelheit nach Hause gehen muss - und wo Aaron wohnt, ist das nicht gerade empfehlenswert.

We Are Chicago atmet durch jede Pore die Aussichtslosigkeit und Eintönigkeit seines Szenarios. Ob nun freiwillig oder unfreiwillig: Das schlägt sich auch in der Präsentation nieder. Das Spiel sieht bestensfalls nach einem frühen PlayStation-2-Titel aus, inklusive grobschlächtiger Objekte und Figuren und verschwommener Texturen. Das könnte ich prinzipiell als charmant abbuchen, würde nicht auch an anderen Stellen im Spiel deutlich, dass die Technik die Achillesferse von We Are Chicago ist. Ein Beispiel: Wenn Aaron im Schnellimbiss arbeitet, muss er von seinen Kunden Geld nehmen und Wechselgeld zurückgeben. Und weil eine größere Varianz hier wohl zu komplex gewesen wäre, zahlen die hungrigen Kunden ausnahmslos immer mit einem Zehn-Dollar-Schein und Aaron gibt das Wechselgeld immer in Ein-Dollar-Noten zurück. Warum? Wohl weil's einfacher zu visualisieren war.

Die Familie kommt zu Besuch.

Ich will nicht falsch verstanden werden, ich bin ein wirklich großer Freund von Spielen, die stark auf ihre Narrative bauen. Aber in der Regel werden diese Titel unter anderem dadurch so packend, weil sie es schaffen, eine tolle Atmosphäre aufzubauen - und das funktioniert eben auch über die Präsentation. Und während selbst alltägliche Tätigkeiten wie Tischdecken oder Herumlaufen in We Are Chicago zumindest ihren Teil dazu beitragen, die Ausweglosigkeit der Situation zu demonstrieren, machen Grafik und Sound hier eben viel wieder kaputt. Ich steigere mich gerne in die deprimierte Stimmung in einer Familie hinein, die sich darüber Sorgen macht, dass der Onkel vergangenen Abend angeschossen worden ist. Wenn dann nach einem hölzernen Fünf-Minuten-Gespräch aber plötzlich alle aufstehen und wie die Holzpuppen das Haus verlassen, reißt mich das einfach aus dem Spiel.

Trotzdem lohnt es sich, einen Blick auf We Are Chicago zu werfen und ich sag' euch auch warum. Das Spiel hat Seele. Obwohl auch eine einfache Grafik bedeutend kunstvoller hätte ausfallen können als das Polygon-Durcheinander, aus dem das Spiel letzten Endes besteht, erzählt es seine Geschichte mit einer gewissen Passion. Die Entwickler nehmen sich Zeit für die Kleinigkeiten im Leben der Spielfiguren. Es zeigt, dass es in der falschen Umgebung eben schon zum Problem werden kann, abends nochmal das Haus verlassen zu müssen. Es konfrontiert den Spieler mit der Frage, ob es klug ist, die sorgenvolle Mutter über die Schlägerei am vergangenen Abend zu informieren oder nicht. Das Spiel wirkt authentisch - und das kommt wohl auch nicht ganz von ungefähr, denn wenn man den Entwicklern glauben darf, entstammen die kleinen Geschichten im Spiel tatsächlichen Begebenheiten. Und so wirkt es eben selbst glaubhaft, wenn eine schlecht animierte Polygon-Figur mir erzählt, dass sie das Leben in ihrem Stadtteil satt hat. Die Botschaft wäre bei besserer Technik immersiver, ja, aber die Botschaft als solche ist stark genug um auch so beim Spieler anzukommen.

Überfall im Schnellimbiss - laut Darstellung in We Are Chicago schon fast Alltag.

Letzten Endes fühlt sich We Are Chicago ein bisschen an, als wärt ihr bei einer Laientheater-Vorstellung. Die Leistung der Akteure mag nicht die beste sein, aber die Botschaft kann darüber hinwegtrösten. So ist es bei We Are Chicago letztlich die dröge Darstellung des Alltags inmitten von Bandenkriegen, die über eine schwache technische Ausgestaltung hinwegtröstet. Dabei erhebt das Spiel in keinem Moment den Zeigefinger - ja, es offeriert noch nicht einmal Lösungsansätze. Es sagt einfach nur: So ist es im Süden von Chicago und es ist furchtbar, dass es so ist. Das ist keine besonders konstruktive Message, aber eine realitätsnahe. Ein gutes Spiel ist We Are Chicago nicht - aber doch eine lohnende narrative Erfahrung, die zumindest mich auch nach der Endsequenz noch eine Weile beschäftigt hat.

Entwickler/Publisher: Culture Shock Games LLC / Culture Shock Games LLC - Erscheint für: PC, Mac, Linux - Preis: 14,99 Euro - Erscheint am: erhältlich - Getestete Version: PC- Sprache: englische Sprachausgabe / englische Bildschirmtexte - Mikrotransaktionen: Nein

In unserer Test-Philosophie findest du mehr darüber, wie wir testen.

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Über den Autor
Markus Grundmann Avatar

Markus Grundmann

Freier Autor

Seine ersten Videospiele konsumierte Markus auf dem Game Boy. Heute spielt er so ziemlich alles, bei dem er auf Knöpfe drücken kann – mit besonderer Vorliebe für Nintendo und extravagante Indie-Titel.
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