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Die Macht der Wahrnehmung

Wie das Spielgefühl kleiner Dinge uns unterbewusst beeinflusst und manchmal sogar größere Aspekte ausblenden lässt.

Eigentlich müsste ich es hassen. Eigentlich müsste ich jeden spielerischen Bestandteil gezielt auseinandernehmen und ihnen einen schriftlichen Einlauf verpassen. Eigentlich sollte ich allen davon abraten, es auch nur für länger als eine Stunde zu spielen.

Eigentlich …

Und dennoch sitze ich hier und verbinde in jeglicher Hinsicht nichts außer purer Freude mit diesem Spiel, obwohl es so viel falsch macht. Jeder Kampf folgt dem immer gleichen Ablauf an stupiden Tastenkombinationen, wenn man die Dauerpenetration des A-Knopfes überhaupt so nennen darf. Jeder Auftrag bedeutet nur weitere sinnlose Zeit, die ich zwischen den Bosskämpfen verschwende. Jede Minute in der leblosen, kahlen Stadt könnte ich mit produktiver Arbeit füllen.

Manchmal spricht einfach alles gegen die Liebe zu einem Spiel, das einem dann trotz der Macken so sehr ans Herz wächst. Wer den oben beschriebenen Titel bereits gespielt hat, könnte dessen Identität vielleicht erahnen.

No More Heroes bietet jedem Kritiker genügend Angriffsfläche für einen gehörigen Verriss. Und ich nehme es niemandem übel, wenn er die auch nutzt. Am Grundprinzip des eintönigen Kampfsystems, der langweiligen Oberwelt und der sinnfreien Beschaffung des Geldes für den nächsten Auftrag gibt es nichts zu rütteln.

Aber wieso kann ich über all diese Punkte hinwegsehen und No More Heroes als das für mich beste Suda51-Spiel deklarieren? Zum einen, weil ich es kann und mir niemand meine Meinung nimmt, auch wenn er es noch so hartnäckig versucht. Vor allem aber wegen eines Aspekts, der sich aus vielen Einzelkomponenten zusammensetzt und diese wie Blut durch die Adern des Spiels fließen lässt.

Ich habe schon öfters in Artikeln von Spielen gesprochen, die einen unerklärlichen Bann auf mich ausüben, obwohl sie so viel falsch machen. Darum möchte ich nun ein wenig mehr auf das Thema Spielgefühl eingehen, das uns teilweise auch unterbewusst beeinflusst.

Bleiben wir also zuerst einmal beim Beispiel No More Heroes. Was genau macht den Titel für mich so anziehend, wenn es nicht die eigentliche Spielstruktur oder das Gameplay ist? Ehrlich gesagt: alles drum herum. Von kleinen Nuancen der Optik, über nichtige Details an Charakteren bis hin zur Musik. Wenn ich den Titel in meine Konsole lege und Klone in Anzügen zerschneide, fühle ich mich gut dabei. Es vermittelt mir zu jeder Zeit das richtige Feedback. Anstatt den Ausschalter wegen des debilen Missionsdesigns zu betätigen, zieht mich No More Heroes mit jeder weiteren Sekunde in seinen Bann.

Und es hat einen Charakter, der auf der Toilette speichert.

Die audiovisuelle Seite kann man hierbei leichter erläutern. Als Pixel-Fan hüpfen meine Augen beim Anblick der Retro-Anzeigen auf und ab. Wenn dann noch das unvergleichliche Hauptthema aus den Boxen surrt, verstärkt es den Drang in mir, weiter in die surreale Welt von Travis Touchdown einzutauchen. Gleiches gilt für die subtilen Intros der Bossgegner, deren eiskalte Worte aus einem riesenhaften Schatten ertönen, oder die kalte Atmosphäre der Gebäude, in denen ihr eure Nebenjobs abholt.

Wesentlich schwieriger wird es da schon beim Kampfsystem. Es gibt ein paar Faktoren, die dafür sorgen, dass es sich so verdammt gut anfühlt. Neben der präzisen Steuerung von Travis, die euch ein direktes Feedback über seine Bewegungen vermittelt, machte Grasshopper besonders bei den Finishern wirklich alles richtig.

Sobald ihr die Lebensleiste eines Feindes auf ein Minimum reduziert, führt der letzte Schlag zu einem Finisher. Hier verlangsamt sich die Zeit und eine durch Tunnelblick und leuchtende Pixel hervorgehobene Richtungsanweisung wird angezeigt. Wenn ihr diese befolgt, nehmen die Bewegungen kurzzeitig Fahrt auf, während Travis zum Schlag ausholt. Nun stockt die Animation kurz vor dem Treffer noch einmal, sodass ihr den vollen Schock der Attacke zu spüren bekommt. Wer im richtigen Moment ein weiteres Mal in die vorher angezeigte Richtung drückt, vollführt einen noch mächtigeren Angriff, bei dem das Laserschwert ein funkelndes Blitzgewitter ausstößt. Der Finisher endet dann in einer explodierenden Blutfontäne, deren gewaltige Ausmaße von der Kamera gezielt eingefangen werden, um den Coolness-Effekt noch zu vergrößern.

Die ganze Szene dauert keine fünf Sekunden und viele Bestandteile nehmt ihr nur unterbewusst auf. Doch sie sorgen dafür, dass ihr euch nach einem erfolgreich platzierten Treffer freut und innerlich "Fuck Yeah!" brüllt. Diese Momente machen das Spielgefühl aus und sie lassen sich in jedem Titel auf verschiedene Weisen wiederfinden.

Die Takedown-Ansichten machen einen großen Teil des Spielgefühls aus.

Es ist der Grund, warum wir alle einen bestimmten Typ von Rennspielen bevorzugen, der uns das beste Gefühl beim Fahren vermittelt. Wollt ihr einen Arcade-Racer mit Takedowns, muss es bei diesem krachen und die Kollision an euch übermittelt werden. Bei einer Simulation wie Gran Turismo oder Forza sollt ihr jede Berührung des Untergrunds spüren. Ohne dieses Feedback fühlt sich die Fahrt leblos an. Achtet bei der nächsten Rundfahrt darauf, durch welche kleinen Details ein Aufprall oder die Verlagerung in der Kurve vermittelt wird.

Für mich nimmt das Abwägen zwischen einem Forza und Gran Turismo sogar ein etwas anderes Ausmaß an. Zwar bevorzuge ich das Rennverhalten in Forza, doch Gran Turismo zieht mich mit einem Vorteil zu sich rüber, der banaler nicht sein könnte. Die Menüs. Ich liebe die Menüs in Gran Turismo und jedes Videospiel sollte sie kopieren. Angefangen bei der an Apple orientierten Hochglanz-Oberfläche, über die Geräusche beim Auswählen bis hin zum sanften Jazz, der mich beim Klicken begleitet. Es entspannt mich und ich vermisse es jedes Mal, wenn ich einen anderen Titel in meine Konsole lege.

Oh Gott, diese Menüs. Ahhhhh…

Doch Spielgefühl kann eine Erfahrung nicht nur erweitern, sondern auch komplett zerstören. Von kleinen Rissen in der soliden Fassade bis hin zu den wackelnden Pfeilern, die das Werk in sich zusammenstürzen lassen.

Mein liebstes Beispiel ist Grand Theft Auto IV. Es spiegelt das komplette Gegenteil zu No More Heroes wieder und genauso wie ich das Abenteuer in Santa Destroy verabscheuen müsste, so hätte ich Nikos Geschichte lieben sollen. Wirklich niemand kann etwas gegen das phänomenale und fast schon lebendige Liberty City sagen, ohne wie ein verbitterter Rentner zu klingen.

Aber diese verdammten Laufanimationen haben mir das komplette Spiel ruiniert. Ja, ich rede tatsächlich 'nur' von den seltsamen Bewegungen, die Niko beim Laufen ausübt. Sobald ihr mit dem Osteuropäer zu Fuß einen Bogen machen möchtet, lehnt er sich mit dem kompletten Körper zur Seite, als würde ihn eine Eisenkugel in seinem Schädel nach unten ziehen. Es sieht so unglaublich dämlich und unnatürlich aus, dass ich beim besten Willen nicht darüber hinwegsehen kann. Wie zum Teufel kommt man auf solch eine Idee? Welche Intention steckt dahinter? Oder halten die Jungs bei Rockstar ein solches Verhalten für normal? Es zieht mich jedes Mal komplett aus dem Spiel heraus und stört den Spielfluss an jeder Ecke. Und das ist wörtlich gemeint.

Und wer könnte die 'realistische' Ragdoll-Physik vergessen.

Selbst wenn ihr in ein Auto einsteigt, hört der Trubel nicht auf. Nein, denn jeder Wagen in Liberty City fährt sich wie ein Wasserbett, das man mit Panzertape an vier Bürostühlen befestigt hat. Nach zwei Stunden flog die Disc zurück in die Hülle und blieb dort bis vor einem Jahr, als ich es noch einmal versuchte. Dieses Mal zwang ich mich selbst und redete mir ein, die kruden Bewegungen irgendwann nicht mehr zu sehen. Niko steckt auch heute noch auf der ersten Insel fest und kann von mir aus gerne dort bleiben und sein restliches Leben mit Roman Bowling spielen.

Nächstes Beispiel: Skyrim. Ja, heute kriegen alle großen GOTY-Abräumer ihr Fett weg. Auch hier reißen mich die Laufbewegungen aus der Immersion. Habt ihr schon einmal in die Außenansicht gewechselt und seid über ein paar Hügel gelaufen? Der Charakter schwebt ohne jeglichen Sinn für Physik auf der Oberwelt, als wäre sie mit eingeöltem Cellophan überzogen.

Aber gut, das Spiel lässt sich auch einfach in die Ego-Ansicht umschalten. Für eine kurze Weile ist dann auch alles gut und schön, bis dann der erste Kampf kommt. Die Gefechte in Skyrim fühlen sich nach nichts an. Es sind körperlose Hack-Animationen, die keinerlei Feedback geben oder einen Treffer auch nur ansatzweise gut vermitteln.

Sieht toll aus, fühlt sich für mich aber belanglos an.

Ihr hüpft wie ein Verrückter um den Feind, hackt wild in der Luft rum und lasst dann die Zahlen im Hintergrund über Sieg und Niederlage entscheiden. Keine Attacke vermittelt auch nur den Hauch von Gewicht. Und schon bin ich wieder aus der ansonst recht beeindruckenden Spielwelt gezogen. Skyrim zu spielen, ist für mich wie ein Traum, aus dem ich alle fünf Minuten geweckt werde, bis ich am nächsten Montag ungemütlich aufstehe.

Damit möchte ich keines der beiden Spiele verteufeln oder jemandem vorschreiben, er solle an diesen Dingen keinen Spaß haben. Nur verdeutlicht es vielleicht die Kraft, die ein solches Spielgefühl auf eine einzelne Person ausüben kann. Es könnte subjektiver nicht sein und doch lassen sich die Gründe genau festlegen.

Diese kleinen Dinge, die auf den ersten Blick komplett nichtig und überhaupt nicht relevant erscheinen, können den Gesamteindruck eines Titels so sehr beeinflussen, dass sie alle positiven oder negativen Argumente überschatten. Wesentlich interessanter ist allerdings, dass sie Spielen eine eigene Persönlichkeit verleihen, die wir entweder akzeptieren oder ablehnen. Genau wie bei den Personen, die wir täglich treffen, bieten Spiele kleinste Facetten, wegen denen wir sie meiden oder zu schätzen wissen. Manchmal sogar beides.

Wenn ihr also das nächste Mal ein Monster plättet, einen Drift vollführt oder euch einfach nur in der Welt bewegt, achtet auf all die Kleinigkeiten, die euer Gefühl beim Spielen beeinflussen. Vielleicht lassen sie euch einen Titel in einem neuen Licht betrachten oder dessen Faszination besser ergründen.

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Björn Balg Avatar
Björn Balg: Freier Autor und wahrscheinlich der letzte Mensch ohne einen Facebook-Account. Liebt Trash und verbringt zu viel Zeit mit dem Ansehen von Katzenvideos.