Thief ist eins meiner absoluten Lieblingsspiele – aber nicht aus dem Grund, aus dem ihr vielleicht denkt!
Mehr als ein Meilenstein der Stealth-Action.
Ein Pfeifen hallt durch die Stille der sonst menschenleeren Nacht. Harte Sohlen klacken auf grauem Backsteinpflaster, ein unheilvolles Summen ist zu hören, in der Ferne lallt eine betrunkene Wache auf ihrem Posten.
Das Klacken bleibt stehen, um ein paar Sekunden zu verharren und schließlich umzukehren – nicht ahnend, dass hinter seinem Rücken eine Gestalt mit erhobenem Knüppel schleicht. Ein leises Ächzen entfährt dem bewusstlosen Körper noch, bevor er langsam auf den Boden sackt und in eine finstere Ecke getragen wird. Dann verschwindet der heimliche Eindringling wieder in einem tiefen Schatten.
Vor genau 25 Jahren erschien Thief: The Dark Project – oder Dark Project: Der Meisterdieb, wie es im Deutschen hieß – und wenn ich es heute spiele, dann werde ich sofort wieder in seine fesselnde Atmosphäre gesogen. Thief ist ein ausgesprochen intensives Erlebnis; viel mehr als ein Ursprung moderner Stealth-Action, für den es zurecht gefeiert wird.
Denn wenn nur die eigenen Schritte durch die Kälte nächtlicher Gassen hallen und mein Alter Ego leise mit sich spricht, wenn Untote durch alte Minen schlurfen und geisterhafte Erscheinungen mit Stimmen wie aus einer anderen Welt langsam an mir vorbeischweben, dann versinke ich in einer Welt, die mich mit Haut und Haaren festhält.
„Festhält“ ja schon deshalb, weil es in diesem fiktiven Mittelalter, wo Magie und Steampunk zusammenkommen und dem Fantastischen auch ein Hauch von Grusel anhängt, kein Ventil für die Spannung gibt, die sich dort aufbaut. Garrett, wie der titelgebende Dieb heißt, kann seine Gegner ja nicht einfach beseitigen. Das funktioniert nur manchmal, wenn sie einzeln und keine Menschen sind. Denn denen darf er auf dem höchsten Schwierigkeitsgrad ohnehin kein Haar krümmen.
Fast immer muss man diese Spannung aber aushalten; den Moment der anhaltenden Gefahr managen, wenn eine Wache zu nahekommt oder durch ein unvorsichtiges Geräusch auf Garrett aufmerksam geworden ist und mit gezogener Waffe nach ihm sucht. Man muss eine Idee entwickeln, wie man diese Gefahr auflöst, ohne sie in einer direkten Konfrontation plötzlich abzuschneiden.
Wenn der Gegner dann langsam durch den Raum kreist und Drohungen murmelt, hilft es vielleicht einen Gegenstand aufzuheben und in eine andere Ecke zu werfen. Wasserpfeile löschen Fackeln und Moospfeile senken die Lautstärke der Schritte auf lauten Böden, bis es irgendwann vielleicht heißt: „Schon wieder diese Ratten!“ Dann kann man kurz aufatmen – falls man nicht feststellt, dass man einer der Wachen den Schlüssel abnehmen muss, den sie direkt am Gürtel trägt…
Erleben statt davon zu lesen
Thief ist kein Spiel, das man über sein Menü spielt, weil man alle relevanten Details sowieso am HUD abliest. Es ist ein Abenteuer, in das man mit Haut und Haaren eintaucht, weil man alles Wichtige darüber erfährt, wie das Umfeld auf Garrett reagiert. Nur ein paar wenige, absolut unverzichtbare Informationen werden außerhalb der Spielwelt angezeigt: Garretts Gesundheitszustand, die verbleibende Luft beim Tauchen, seine gewählte Waffe sowie die Anzahl der aktiven Munition und Gegenstände.
Und natürlich die zentrale Anzeige dafür, wie sehr er gerade im Licht oder im Dunkeln steht. Alles andere kann man sehen und hören. Nicht einmal Wegpunkte werden markiert. Stattdessen muss man zur Orientierung die Karte des aktuellen Areals hervorholen – kein „Burglar Maps“, sondern eine unveränderliche Zeichnung auf einfachem Papier. Und manchmal nicht einmal das, sondern nur vage Hinweise oder Notizen, die man unterwegs fand. Sowie ein Kompass, der beim Planen des Weges hilft.
In weitläufigen Kulissen, die im Grunde vom ersten Schritt an frei begehbar waren, fand man sich so auf eigene Faust zurecht. Natürlich brauchten manche Türen einen Schlüssel oder mussten durch den richtigen Einsatz verschiedener Dietrichs geknackt werden – ein Traum, wenn Garrett nur wenige Sekunden bleiben, bevor die davor patrouillierende Wache wieder um die Ecke kommt!
Und heute?
Ich sehe natürlich, dass Thief nicht besonders gut gealtert ist. Seine detailarmen Kanten laufen in groben Winkeln aufeinander zu. Und wenn ich ehrlich bin, dann ist es durchaus albern, im Schatten nicht gesehen zu werden, obwohl man lediglich einen guten Meter von einem angestrengt suchenden Gegner entfernt steht.
Aber immer, wenn ich dann wieder durch diese namenlose Stadt schleiche und es bald schon mit den fanatischen Hammeriten zu tun bekomme, die beim Schmieden ihrer religiösen Symbole ihre Schriften zitieren, dann hält mich diese geheimnisvolle Welt ebenso in ihrem Bann wie es das clevere Katz-und-Mausspiel tut. Denn Thief ist viel mehr als ein Meilenstein der Stealth-Action. Es ist ein Meisterwerk der Immersion. Nicht ohne Grund hat ein Leveldesigner von Arkane gerade erst eine aufwändige neue Kampagne dafür veröffentlicht.
Metal Gear Solid, Splinter Cell, Dishonored, Deus Ex, Alien: Isolation, The Last of Us oder auch das im Early Access befindliche, stark von Thief inspirierte Gloomwood haben viel dazu beigetragen, dass ich die Entscheidungsfreiheit und den Anspruch der Stealth-Action zum Besten zähle, was die Spielewelt zu bieten hat.
Aber wer weiß, was daraus geworden wäre, wenn das legendäre Looking Glass Studios (System Shock, Ultima Underworld) vor 25 Jahren nicht nur eine spielerische Idee gefunden, sondern auch so großen Wert auf das Erschaffen einer plastischen Welt gelegt hätte, die man nicht nur zur Kenntnis nimmt, sondern die man mit allen Sinnen auch erleben kann.