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2015! - RPGs, die 1995 hätten erscheinen können

Ihr müsst eure Gruppe erst sammeln, wenn ihr das Gebiet verlassen wollt.

Inzwischen kann man wohl eindeutig sagen, dass die Retro-RPG-Welle eine relativ gute Konstante wurde, statt einfach abzuebben. Das dürfte weder an geborgter Nostalgie bei jungen Spielern noch an Dauernostalgie bei den älteren liegen. Das technisch Einfache ist die Möglichkeit, mit einem solide kalkulierten Budget sehr viel optionale Wege und Dialoge unterzubringen. Das ist die Krux an den technisch immer tolleren High-End-Möglichkeiten. Hier muss man viel Geld ausgeben, um NPCs und Quests zu realisieren, die vielleicht jeder dritte Spieler mal zu Gesicht bekommt. Das gönnt sich ein Witcher, Dragon Age oder Fallout mal hier oder da, aber in aller Konsequenz, mit Sprachausgabe und Bossanimation kann man das nicht beliebig umsetzen. Daher wandelt sich das große Rollenspiel wieder mehr zu einem Adventure mit Leveln und Sammeldingen in freien Welten.

Dort kam es irgendwann mal her, dorthin muss es aber nicht länger zurückgehen. Das Retro-Element, das mit Pillars, Wasteland und anderen zurückkam, ist schlicht ein Kompromiss, um das Rollenspielelement wieder stärker betonen zu können, ohne 50 Millionen Dollar auf den Tisch legen und 10 Millionen Exemplare verkaufen zu müssen. Hardcore-RPG ist ein übersichtlicher Markt, selbst wenn er etwas gewachsen ist, seit Garriott sein erstes Spiel in einer Plastiktüte verkaufte. Wer sagt, dass diese technische Limitation von Pillars und Co. super sei, weil es ja wie früher wäre, und früher war alles besser, als es noch richtig um das Gameplay ging, lügt sich jedoch in die Tasche. Jeder, dem diese Spiele gefallen, hätte gerne ein Dragon-Age-Budget und noch mehr für ein Pillars, um den Witz, dass es auch 1995 hätte erscheinen können, zu beenden. All das komplexe Gruppen-Gameplay und dazu die Technik und Politur eines Witcher 3, wer würde das nicht haben wollen?

Pillars of Eternity

Nun, das wird so schnell nicht passieren, und so teilt sich die RPG-Welt wohl noch für ein Weilchen in die Pillars, Wastelands und Grimrocks auf der einen Seite, und die Witcher und Fallouts auf der anderen, mit Dragon Age ziemlich einsam in der Mitte. Aber das ist okay und zum jetzigen Zeitpunkt wohl auch gut etabliert. Zeit also, Pillars und seine Freunde für alles, was sie tun, zu loben, zu betanzen und noch einmal als die ganz Großen aller Zeiten zu feiern. Klar, warum nicht, es sind teilweise fantastische Spiele und meiner persönlichen Ansicht nach steht Pillars of Eternity allen voran. Aber zufrieden bin ich noch nicht und ich hoffe ganz dringend, dass die Entwickler all dieser auf eine Million Spieler oder (deutlich) weniger zugeschnittenen Perlen das auch nicht sind.

Es hapert nämlich noch gewaltig, und das nicht nur im Bereich des "Wünsch dir was". Nehmt zum Beispiel die Interaktion mit der Umwelt. Hier kann man das dank Interface und anderer Technik heute praktisch unspielbare Ultima 7 nehmen, das mit gewissem Erfolg versuchte, eine komplett simulierte Umwelt zu erschaffen. Türen ließen sich einschlagen oder sprengen, wenn der Schlüssel fehlte, Brot konnte gebacken werden und vieles mehr. Weit von Perfektion entfernt, aber extrem ambitioniert. Hier schwächelt Pillars, das sich auf die üblichen Quest- und Ausrüstungsgegenstände beschränkt. Das Lösen von Situationen auf unterschiedliche Art kommt zwar vor, ist aber noch keine generelle Tugend der kleinen großen Rollenspiele. Der krasse Außenseiter Age of Decadence ist da gedanklich deutlich weiter.

Das "Retro"-Rollenspiel hat sich 2014 und 2015 fest etabliert, unter anderem mit dem großen, herausragenden Geschichtenerzähler Pillars of Eternity. Ihre Technik ist akzeptiert, jetzt dürfen sie gerne im spielerischen Detail ambitionierter und mutiger werden. (Martin Woger)

Pillars of Eternity im Test


Age of Decadence

Das Witzige an diesem Spiel: dass es gefühlt wirklich seit 1995 in der Entwicklung war. Elf Jahre schraubten die Iron Tower Studios unermüdlich daran, ließen sich von einer halben Kickstarter-gefertigten Generation überholen, sicher das eine oder andere Mal für tot erklären, aber niemals aus dem Konzept bringen. Der Release im vergangenen Oktober brachte ein RPG auf den Weg, das diese Bezeichnung verdient, sich ohne Kämpfe bestreiten lässt und Konsequenzen spielerbedingten Handelns zu mehr nutzt als nur einer alternativen Dialogzeile, wie es heute oft der Fall ist.

Nach all den Stunden genieße ich immer noch die reaktiven Gesprächsverläufe, durch die man sich wie ein Aal winden kann. Bei jedem scheinbar Hilfebedürftigen, der mich auf den Straßen anspricht, überlege ich dreimal, ob ich ihm folgen soll. In den vielen Textfenstern entfaltet sich eine situative Spannung, weil jedes "falsche" Wort auf halsbrecherische Art enden kann.

Iron Tower ging es um die Stimmung auf der Straße, wo fünf Münzen an einen Bettler in einer nichts auslassenden Erzählung enden und der Niedergang der Welt den Menschen überlassen bleibt. Inmitten der Bevölkerung herrscht eine gewisse Abgebrühtheit und wem man trauen kann, ist eine ganz relative, frei erörterbare Frage.

Die ersten Stunden waren schon klasse. Spätestens wenn man in den Slums einen Brunnen hinabtaucht und je nach Stats-Ausrichtung andere Wege wählen kann oder wenn Kehlenschlitzer aus Sackgassen springen, in die euch der einheimische Tourguide manövrierte, ist Age of Decadence das zu spät erschienene 90er-Rollenspiel des Jahres. Vor allem, weil es auch aussieht wie aus den 90ern. (Sebastian Thor)


Hard West

Hard West gehört definitiv zu den Überraschungen des Jahres, die kaum einer gespielt hat, sich aber jeder, der sich immer so gern und lautstark vom Mainstream abzusetzen sucht, gefälligst kaufen sollte. Es bietet mit seiner Mischung aus diversen Horrorarten in einem Wild-West-Setting und seiner so losen wie - für ein Spiel dieser Größenordnung - ambitionierten Episodenstruktur eine Spielerfahrung, die auf die beste Art anders ist. Klar, es ist ziemlich hässlich und denkt man sich die Auflösung auf Super-VGA runter - was hier problemlos machbar wäre -, hätte es wirklich 1995 erscheinen können. Aber das ist ja die Magie der aktuellen Möglichkeiten der Selbstvermarktung über Steam und Co., sei es nun mit oder ohne Early Access.

Diese ist auch der Grund, warum nichts mehr von dem "Früher war alles besser"-Mantra wahr ist. Ja, für eine Weile war es schwierig, kleine, mutige Projekte anzugehen. Man brauchte einen Publisher, der das Ding auf die Disc brennt, es musste als Vollpreistitel konkurrenzfähig aussehen, unabhängig von allem, was es sonst hatte, und da wurde vieles gefiltert, was nach einem zu hohen Risiko aussah. Heute kann ein Hard West seinen Platz finden und auch wenn dieser sicher nicht bei Media Markt und in den Herzen von Millionen Spielern liegt, ist es doch da und verfügbar und für die Leute, für die es gemacht wurde, wirklich gut. Und das darf ihm in dieser neuen, besten aller Spielerzeiten, die es je gab, genug sein.

Wenn ihr ein frisches Setting sehen möchtet, interessante Figuren, solide Rundentaktik und ihm seine Hässlichkeit und sein nicht immer ganz so gelungenes Balancing verzeihen könnt, dann ist es einer dieser vielen Rohdiamanten, die in der neuen, besten aller Spielerwelten zu finden sind. (Martin Woger)

Hard West im Test


Wasteland 2

Mit Siebenerparty, Dachshoden und schrankenloser Charakterentwicklung hatte Inxile drei Trümpfe in der Hand, die sie dieses Jahr auch auf den Konsolen ausspielten. Erstaunlich, wie gut der Maus-und-Tastatur-Entwurf umgemünzt aufs Pad funktioniert. Wasteland 2 schafft damit einen vielerorts für nur schwer vereinbar gehaltenen Spagat, den zwischen Tradition, ohne sich Höhergestelltem zu opfern, und der Zugänglichkeit bequemer Eingabemethoden.

Was ihr daraus macht, ist am Ende euer Ding und nur dem unterstellt, was eure Leute an Fähigkeiten beherrschen. Mit sieben Mann kann und sollte man sich möglichst breit positionieren und für alle Eventualitäten rüsten. Wasteland 2 stellt lange Überlegungen, wer in welcher Rolle aufgehen soll, vorne an und erlaubt ebenso gemütliche wie zielgerichtete Progression.

Die Suche nach der schnellen Action bremst allein schon der Rundenkampf, denn der ist nie schnell, besonders nicht wenn sieben Leute auf eurer Seite nacheinander ihre Züge machen, Gegner noch nicht mal eingerechnet. Divinity hat in der Hinsicht noch länger hinhaltende, fast ins Epische abdriftende Kampfausmaße, doch die Ruhe weg haben beide.

Was mich an Wasteland 2 packte, ist auch die regelmäßige Rückkehr in die Ranger-Zitadelle mit Sack und Pack, der Besuch beim Kartografen, das schrittweise Erschließen des Ödlands unter dem Banner der Endzeitsheriffs. Wo anfangs jeder nur mit Mühe vor der eigenen Haustür kehrt, begreift man langsam dieses "Draußen", von den ersten Schritten im Agrarzentrum bis zu den kalifornischen Ausläufern eines durch den Fleischwolf gedrehten Amerika. Wasteland 3? Ja und auf jeden Fall. Diese Art von Spiel war zu lange unter dem Radar, als dass man jetzt schon von Abnutzung sprechen könnte. (Sebastian Thor)

Wasteland 2: Director's Cut im Test


Divinity: Original Sin

Auch diesen Platz verdanken wir einer nachträglich erschienenen, noch einen Tick besser als Wasteland 2 zu spielenden Konsolenversion. Trotz aller Verkramtheit, die Larians Abenteuer mit sich herumschleppt, ist es fantastisch mit dem Pad zu steuern. Und wo es in der Haupthandlung wenig mehr als "das Übliche" auf den Weg bringt, sorgen eher die kleinen Situationen und die Interaktion mit der Umwelt für richtiggehend magische Momente.

Der Grundsatz dabei: Wagt euch zu früh zu weit und das war es. Larian hatte kein Interesse daran, den Spieler durch vorsortierte und an seinen Fortschritt angeglichene Levelzonen zu schleusen. Original Sin findet beinahe perfiden Spaß daran, ihn zum "Einfach-mal-Machen" zu verdonnern, schauen zu lassen, wie er weiterkommt, und ihm statt zum Diktat verschnürter Zielsetzungen den Verlauf in die Hand zu geben.

Den betrübten und viel zu starken Ork am Strand in eine ihn fast komplett lahmlegende Falle zu locken und den Rest mit Feuerbällen zu erledigen, ist ein Moment umwerfender Glückseligkeit. Original Sin ist voll mit solchen Kniffen, auf die man selbst kommen muss, ebenso wie mit unterschiedlichsten Waffen und Rüstungen. Ständig etwas zu optimieren, zu sammeln und zu vergleichen in der knallbunten Fantasy-Boutique.

Sie schert sich keinen Meter um Einstiegshürden, vertraut auf Eigeninitiative und dickes Fell, will man sich einarbeiten und die nächsten hundert Stunden in einem systemisch sehr behaglich funktionierenden Rollenspiel verbringen. (Sebastian Thor)

Divinity Original Sin: Enhanced Edition im Test

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