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Wie Baldur’s Gate 3 meine schlechten RPG-Angewohnheiten getötet hat

Entweder Oger

Das waren ein paar harte Tage in meinem unverschämt verregneten Österreichurlaub: Larian hatte Baldur’s Gate 3 nicht zum Preload bereitgestellt und in unserer Ferienwohnung war pixeliges Netflix das höchste der Bandbreiten-Gefühle. Gleichzeitig überschlug sich das Netz mit Superlativen über dieses Spiel, auf das ich mich so lange gefreut hatte. Baldur’s Gate hatte in meiner Kindheit Legendenstatus, und weil ich zu der Zeit keinen eigenen PC besaß, habe ich diese Reihe mit den Jahren im Kopf noch ein gutes Stück weiter mythologisiert. Hat das Warten darauf nicht gerade einfacher gemacht.

Mittlerweile habe ich fast 30 Stunden auf der Uhr und bin begeistert. Gar nicht mal über das, was ich hier im Einzelnen mache, wie es aussieht oder darüber, was mir das Spiel erzählt. Ich liebe einfach, dass es mit einer Reihe meiner schlechten Rollenspiel-Angewohnheiten aufräumt. Vielleicht ist es auch einfach der Umstand, dass heutzutage alles ein RPG sein will und ich mich mit diesen Möchtegernrollenspielen irgendwo in der wohlwollend dahinplätschernden Mitte getroffen habe, in der ich mich bestens auf meine bevorzugten Schwert-und-Schild-Langweiler verlassen konnte.

Das Resultat: Mein Rogue und Arcane Trickster Jarnathan - in loser Anlehnung an den besten Charakter aus im Honor Among Thieves. Cooler Typ.

Egal, wo – ich spiele fast immer den rechtschaffenen Helden mit möglichst direktem, hohem Schadens-Output, weil ich bequem geworden war und moderne Spiele mit RPG-Einschlag schienen nur allzu geneigt, mir diese Bequemlichkeit durchgehen zu lassen. Baldur’s Gate 3 fühlt sich jetzt anders an und macht es auch einem verfahrenen Kopf wie meinem leicht, mal etwas anderes zu probieren. Ich bin sicher, das trifft zu guten Teilen auch auf Dinge wie Pathfinder, Pillars of Eternity oder Tyranny zu. Aber die drangen nicht so universell in den Mainstream vor, weckten nicht dieselben Begehrlichkeiten, wie das Larian jetzt mit Baldur’s Gate gelang, das nicht nur sehr einladend aussieht, sondern trotz aller Tiefe auch sehr zugänglich bleibt.

Besonders willkommen ist die Erinnerung daran, dass es einem Vollblutrollenspiel beinahe egal ist, wie man es spielt, dass viele Spielweisen gleichberechtigt – und gleich befriedigend – nebeneinander existieren und dass es bestens auf möglichst viele Dinge vorbereitet ist, die die Spielenden tun könnten. Mehr noch: Baldurs Gate 3 scheint es in gewisser Weise egal, ob ich Erfolg in meinem Abenteuer habe. Nichts symbolisiert das mehr als die Würfel, die es mir direkt unter die Nase hält. Es tut so, als sei es ihm gleich, ob sie gefällig zum Liegen kommen und signalisiert damit ganz offen, dass es seinen Möglichkeitsrahmen sehr weit gesteckt hat. Denn wo eine 6 plus 2 mir die eine Tür krachend vor dem Kopf zuschlägt, müssen irgendwo auch ein paar andere aufgehen. Dass dahinter nicht grundsätzlich ein Kampf wartet, ist eine echte Wohltat.

Nicht immer ist die naheliegende Entscheidung die, die für alle Beteiligten die Beste ist.

So nimmt Larian an mir einen gründlichen Reset vor, wenn es um den Begriff des Rollenspiels geht, den jeder, sicher auch wir, in der Vergangenheit ein wenig zu häufig genutzt haben, nur weil auch Action-Titel sich jetzt mit Levels und Skill-Bäumen schmücken. Nach und nach löste mich Baldur’s Gate 3 so, aus meiner Weltenretter-Verknöcherung und macht es mir so leichter denn je, wirklich eine Rolle zu spielen. Denn ihm ist wurscht, was ich mache oder wie. Wiederum: Ich bin mir sicher, die guten Indie-RPGs der letzten Jahre vermochten Ähnliches. Wie sehr aber Larians Neues auf alle meiner Entscheidungen eingestellt ist, das imponiert und erweckt wirklich den Eindruck, ein unparteiischer DM nickt im Hintergrund die Ideen meiner Party ab. Wo ich in anderen Spielen oft den Verdacht habe, dass sie mich insgeheim fernsteuern oder zumindest eine bevorzugte Route für mich vorausgeplant zu haben, herrscht in den Forgotten Realms die Sorte “mach mal!”, die häufig die interessantesten Resultate abwirft.

Weil in Baldur’s Gate so viel passieren kann, die Konsequenzen oft nicht so leicht absehbar sind und sich trotzdem gesalzen haben, lese ich Texte viel aufmerksamer und mache mir mehr Gedanken darüber, wie ich auf Fragen antworte. Wie zum Beispiel auf die, ob ich jemand Bestimmtes wirklich an meinem Hals knabbern lassen möchte, wenn die Person nur lieb fragt. Ich wäge selbst offenkundig miese Deals lange ab, debattiere mit mir selbst, oft auch dann noch, nachdem ich die Entscheidung längst getroffen habe. In anderen Spielen hänge ich meinen Entschlüssen selten so lange nach und versinke dadurch umso tiefer in dieser Welt. Ich bin nicht nur mit dem Weg nach vorn beschäftigt, sondern kreise gedanklich mehr um Vergangenes. Einfach cool.

Barcus Wroot barachte mir bei, immer zuerst die Beschreibungen von Hebeln zu lesen. Shar sei seiner Seele gnädig.

Und ja, ich bekomme es sogar hin, mich von andernorts über Jahre etablierten Gameplay-Zyklen zu lösen: Ich klappere nicht mehr jede Umgebung ab, in der Angst, irgendwas im Flechtkorb hinten rechts eine leere Flasche zu verpassen, schlage sogar Questangebote aus und suche nicht mehr unbedingt jeden Kampf, um ein paar XP zu gewinnen. Stattdessen mache ich das, was mir in der jeweiligen Plotsituation sinnig erscheint und der Motivation meines Charakters entspricht. Ich fühle mich wie auf einem Abenteuer und spüre weniger die transaktionelle, auf Progression und Belohnungen ausgerichtete Natur vieler moderner Spiele. Und das, obwohl Systeme zur Gratifikation von Spielerhandlungen in Baldur’s Gate 3 natürlich genauso vorhanden sind, wie in anderen Titeln.

Auch der taktische Kampf trainiert bei mir ein paar Muskeln, die unter meinem Knight-in-shining-armor-Fetisch über die Jahre nicht zu knapp atrophiert sind. Umgebung, bewegliche Objekte, Buffs, Wechselwirkungen von Elementen, und zahllose Gelegenheiten, Feinde auch ohne Schadenswirkung zumindest vorübergehend aus dem Kampf zu nehmen – es steckt eine Menge drin. Zu jeder Zeit gibt es massig einfach zugängliche Möglichkeiten, Einfluss auf einen Fight zu nehmen, die interessanter sind, als das Schwert auf direktem Weg durch die Opposition zu treiben. All das sorgt im Zusammenspiel mit kostspieligen Zaubern – rasten zum Aufladen! – und kurzen Lebensleisten für ein Kampfystem, bei dem ich meine Züge sorgfältig plane und dessen Verlauf mich alle paar Runden gründlich überrascht.

Die der Hexerei beschuldigte Frauenentführerin bittet mich um eines meiner Augen. Warum scheint mir das trotzdem ein verlockender Deal?

Deshalb an dieser Stelle ein Dankeschön an Baldur’s Gate 3. Ich erlebe hier das erste Mal seit langer Zeit wieder ein echtes Rollenspiel voller Freiheiten und bekomme Umfang und Produktionswerte eines modernen Triple-A-Titels noch obendrauf. Ein Goldstück von einem Spiel und zu Recht in aller Munde.

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