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Her Story - Test

Das Ding hätten wir auf dem Sega CD gebraucht.

Eurogamer.de - Empfehlenswert Badge
Gelungene Umsetzung einer innovativen Erzählstruktur, die man gespielt haben sollte.

Defragmentierte Erzählungen sind eine schwierige Sache. Der beste Beweis dafür im Bereich der Videospiele ist wohl Quantic Dreams Beyond: Two Souls, in dem Autor David Cage die zeitlich umherspringende Handlung anscheinend als cooles Stilmittel einsetzen wollte, damit aber nicht so recht umgehen konnte. Letztendlich war es bloß eine Ausrede, um ohne jeglichen Erklärungszwang zwischen unterschiedlichen Setpieces zu wechseln.

Her Story geht sogar einen Schritt weiter und lässt euch nach den einzelnen Szenen einer zusammenhängenden Geschichte suchen, wobei wohl jeder Spieler eine komplett andere Abfolge der Geschehnisse erleben wird. Das Unfassbare daran? Es funktioniert. Wo Beyond: Two Souls schon an einer vorgefertigten Reihenfolge scheiterte, brilliert Her Sory im Chaos seiner Zerstückelung.

Ihr übernehmt die Rolle einer nicht definierten Person und sitzt das gesamte Spiel über vor einem alten Monitor. Aus irgendeinem Grund sucht ihr Verhörvideos in einer Polizeidatenbank. Dabei handelt es sich um sieben verschiedene Interviews mit einer Frau, die des Mordes beschuldigt wird. Eure Aufgabe besteht nun darin, die gesamte Geschichte dahinter zu verstehen und der Wahrheit einen Schritt näher zu kommen.

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Da die einzelnen Videos in kleine Clips unterteilt sind, müsst ihr sie in der Datenbank über Suchbegriffe finden. Leider ist das System ziemlich altbacken und es können nur die ersten fünf Ergebnisse in chronologischer Reigenfolge angezeigt werden. Nachdem ihr beispielsweise den Namen des Opfers erfahrt und diesen eingebt, erhaltet ihr knapp 80 Resultate, könnt die meisten davon allerdings nicht einsehen. Ihr müsst in der Eingabe eurer Suchbegriffe also immer genauer werden, um die späteren und somit wichtigeren Videos zu sehen. Diese clevere Aufmachung sorgt für ein wenig Ordnung im ansonsten unvorhersehbaren Ablauf.

Natürlich könnt ihr mit etwas Glück sofort auf die wichtigsten Beiträge stoßen, jedoch sind die Monologe der Frau meist so geschrieben, dass ihr ohne den zugehörigen Kontext nicht alles versteht. Beispielsweise erhielt ich als erstes Video die Beschreibung einer Person. Erst drei Stunden später, nachdem ich die grobe Rahmenhandlung verinnerlicht hatte, konnte ich zu diesem Video zurückkehren und verstand den Subtext der Aussage. Zum Glück dürft ihr jedes Video in einer Playliste speichern und mit eigenen Beschriftungen versehen, um sie so leichter wiederzufinden.

Ihr könnt die Reflexionseffekte des Monitors auch ausstellen, wozu ich aber niemandem raten würde.

Genauso wichtig wie eine funktionierende Struktur ist die Handlungsqualität, die mich auf der einen Seite sehr überraschte, dadurch aber auch direkt enttäuschte. Ohne näher auf gewisse Aspekte einzugehen, ist eine Erklärung dieser Aussage äußerst schwierig. Meine Probleme hängen direkt mit dem größten Twist der Story zusammen, der sich negativ auf die schauspielerische Leistung oder zumindest die Direktion auswirkt. Im Anschluss an eine große Erkenntnis hatte ich gehofft, viele subtile Anspielungen darauf zu finden, ganz besonders im Verhalten der Dame. Leider tauchen nur ein paar Hinweise auf, und die sind nicht einmal besonders clever. Wenn Her Story mehr in die Richtung von Alan Rickmans Darbietung des Professor Snape ginge, hätten wir statt eines guten wohl ein großartiges Spiel bekommen. Falls ihr nicht versteht, was ich damit meine: Schaut man sich die Harry-Potter-Filme ein zweites Mal an, erkennt man mit den gewonnenen Informationen späterer Teile vollkommen unerwarteten Tiefgang in Rickmans Charakterdarstellung. Her Story fehlt diese Komponente und es hätte die Auflösung um ein Vielfaches verbessert.

Doch auch so ist es eine interessante, sich mehr mit den Personen als dem eigentlichen Mordfall auseinandersetzende Handlung. Neben der fehlenden schauspielerischen Tiefe gibt es auch einige Momente, die sich ein wenig erzwungen anfühlen und im Kontext eines Polizeiverhörs fragwürdig erscheinen. So wird die Frau plötzlich dazu aufgefordert, einen Song zu spielen, dessen Subtext euch mit der Brechstange abholt.

Auf Wunsch lassen sich die Clips jederzeit vor- und zurückspulen.

Diese Schwächen kann ich in Anbetracht des restlichen Erfolgs leicht ignorieren. Dazu funktioniert der erfrischende Ansatz zu gut und überzeugt vor allem mit seiner bedrückenden Atmosphäre. Die melancholische Musik erzeugt in Verbindungen mit den flackernden Reflexionen auf dem Monitor schnell ein unwohles Gefühl. Falls ihr beim Spielen Angst bekommen solltet, kann ich euch jedenfalls beruhigen. Ja, ein paar Effekte können den Eindruck eines lauernden Jump-Scare erwecken, aber einen derart fiesen Trick braucht ihr hier nicht zu erwarten.

Viel mehr möchte ich zu Her Story nicht sagen, aus Angst, jemandem einen Teil der Erfahrung zu ruinieren. Am besten geht man komplett blind an dieses Spiel heran. Nehmt euch drei bis vier Stunden Zeit, setzt euch gemütlich im Dunkeln an den Rechner und packt die Kopfhörer auf die Ohren. So genießt ihr diesen fantastischen Titel unter optimalen Umständen.

Ja, Her Story mag nicht perfekt sein und einige Probleme werden den einen oder anderen sicherlich mehr stören als mich. Für gerade einmal sechs Eurowartet ein unvergleichliches Erlebnis, das euch noch Stunden nach dem Ende beschäftigen wird.

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