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Pentiment – Test: Jetzt weiß ich, was unsere Vorfahren umgetrieben hat!

Macht Geschichte.

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Stilvoll aufbereitete und vielschichtige Erzählung um Menschen mit alltäglichen Sorgen vor dem Hintergrund großer historischer Entwicklungen.

Wir schreiben das Jahr 1518. Luther hat gerade seine Thesen veröffentlicht und der Buchdruck sorgt für eine rasante Verbreitung von Literatur, die einst von Hand gearbeiteten Büchern vorbehalten war. Es ist der Anfang der Reformation – und die Zeit, in der Andreas Maler, seines Zeichens tatsächlich Maler, an dem Bild arbeitet, mit dem er seinen Meister machen will.

Das tut er in Kiersau, einer fiktiven Abtei in Bayern, die allerdings wie das gesamte Szenario sehr genau der Realität nachempfunden wurde. Das gilt auch für den ebenso erfundenen Ort Tassing am Fuß der Abtei, wo Andreas für die Dauer der Entstehung seines Meisterwerks ein Zimmer gemietet hat. Er kennt daher die Menschen und ihre Sorgen, ist als Besucher aber immer auch nur Außenstehender und Beobachter des Geschehens.

Das macht ihn zum perfekten Protagonisten, weil ihm sein Umfeld dadurch eine gewisse Neugier zugesteht und er nicht nur in Tassing gern gesehener Gast ist, sondern sich auch relativ frei unter den Mönchen und Nonnen der Abtei bewegen kann. Denn das sind verschiedene gesellschaftliche Gruppen mit sehr unterschiedlichen Privilegien.

Um seinem Freund zu helfen, muss Andreas mitunter... fragwürdige Detektivarbeit leisten.

Vor allem aber ist das für die Geschichte wichtig, da einer der Mönche und Freund von Andreas bald eines Mordes beschuldigt wird, den er allem Anschein nach gar nicht begangen hat. Deshalb macht es sich Andreas zur Aufgabe, die Menschen in Tassing und Kiersau zu befragen, um den Mörder ausfindig zu machen. Und so ist Pentiment im Kern ein Detektivspiel, bei dem man relativ frei Indizien nachgeht und irgendwann die Entscheidung trifft, welche davon man dem Erzdiakon präsentiert, der daraufhin sein Urteil fällen wird.

Soll man einen verdächtigen Mönch ans Messer liefern, der Andreas abfällig behandelt hat? Was ist mit denen, die einen Groll gegenüber dem Opfer gehegt haben? Hat man überhaupt einen offensichtlich Schuldigen gefunden? Pentiment ist voll mit Entscheidungen mit zum Teil schwerwiegenden Folgen.

Alltag wie er einmal war

Versteht das Spiel aber nicht falsch: Diese großen Momente stehen nicht im Mittelpunkt. Sein Wesen liegt nicht in der Inszenierung einer dramatischen Tragödie, sondern in der Darstellung einer Zeit, die von Veränderung geprägt ist, sowie von daran geknüpften Hoffnungen und Sorgen. Schließlich verlässt man Tassing nach der Urteilsverkündung, um über einen Zeitraum von 25 Jahren noch mehrmals dorthin zurückzukehren.

Immer besser lernt man Tassing, seine Einwohner, ihre Sorgen und Traditionen kennen.

Man erlebt also, wie sich der Ort verändert. Man unterhält sich mit alten und neuen Bekannten, lernt sie als freundliche, grimmige, zufriedene und erschöpfte Menschen kennen, die zum Essen einladen und von ihren Sorgen erzählen. Aus Stolz servieren sie Brot, obwohl sie keins für ihren eigenen Teller haben. Man erfährt, dass Frauen nicht unbedingt aus freien Stücken heraus Nonne wurden und bekommt erschreckend oft mit, dass schon wieder ein kleines Kind gestorben ist.

Andreas selbst ist dabei nicht nur unbeteiligter Zuhörer, sondern hat es mir oft nicht leicht gemacht, die richtigen Worte zu finden. Immerhin sind alle Dialoge Multiple-Choice-Gespräche. Doch was soll man schon antworten, wenn er von einer armen Frau gefragt wird, wie es ihm geht – er, dessen größte Sorge als erfolgreicher Künstler jene Klienten sind, die ihm mit gut bezahlten Sonderwünschen auf die Nerven gehen? Es gab Augenblicke, da hat mir Pentiment ein richtig schlechtes Gewissen gemacht, nachdem es mich so eindringlich mit den gesellschaftlichen Widersprüchen vertraut gemacht hatte. Und dann erfahre ich, dass auch Andreas bereits Dinge erlebt hat, die ihn jeden Tag und jede Nacht verfolgen...

Viele Familien laden Andreas zum Essen ein - auch wenn sie es sich eigentlich kaum leisten können.

Diese vielschichtige Charakterisierung ist ganz große Klasse. Josh Sawyer (bekannt für Fallout: New Vegas oder Pillars of Eternity) und sein Team beschreiben die Zeit und ihre Menschen so lebendig und umfassend, dass ich die zahlreichen Unterhaltungen geradezu verschlungen habe. Ohne ausladend oder gar belehrend zu sein, dafür stets auf das Alltägliche gerichtet, haben sie mir ein Stück europäische Geschichte nahegelegt, wie es kein Lehrbuch je geschafft hat.

Zeitgemäß

Was ihnen unter anderem deshalb gelingt, weil das Artdesign mit jedem Pixel zeitgenössischen Stil atmet. Zog ich beim ersten Anblick der an frühneuzeitliche Holzschnitte angelehnten Grafik noch die Augenbrauen zusammen, finde ich gerade das inzwischen herausragend – nicht zuletzt deshalb, weil die wenigen Pinselstriche eine feine Situationskomik erlauben, bei denen aufgerissene Augen schon genügen, um eine große Misere in Andreas‘ Gesicht zu zeichnen.

In dem stilvoll gearbeiteten Notizbuch findet man Informationen zu Aufgaben, Personen, Orten und Begriffen. Außerdem kann man direkt in Unterhaltungen Informationen zu darin vorkommenden Bezeichnungen aufrufen.

Schön ist außerdem sein Notizbuch, in dem nicht nur sämtliche Charaktere beschrieben, sondern auch Begriffe der damaligen Zeit erläutert werden. Alle Schritte seiner Ermittlungen werden ebenso festgehalten wie grobe Landkarten von Tassing und Kiersau. Tauchen Namen oder Bezeichnungen in Dialogen auf, werden sie zudem direkt in der Sprechblase verlinkt. So hat man stets den vollen Überblick, weshalb ich gerne die dicken, knisternden Seiten des Buchs umgeschlagen habe, um mich kurz zu orientieren.

Apropos Sprechblasen: Die Buchstaben werden dort so dargestellt, wie die jeweiligen Personen gemäß ihrem gesellschaftlichen beziehungsweise beruflichen Stand schreiben würden. Bei der Unterhaltung mit einem Mönch sieht man deshalb zunächst die sauber gezogenen Umrisse der großen Buchstaben, bevor die Lettern ausgemalt werden, während viele einfache Leute mit normaler Handschrift „sprechen“. Begriffe, die Gott betreffen, werden außerdem rot dargestellt und erst dann eingetragen, nachdem alle schwarzen Zeichen aufgetragen wurden. Ganz wundervoll finde ich nicht zuletzt, dass sich die Gesprächspartner manchmal „verschreiben“, weshalb einzelne Buchstaben im Nachhinein korrigiert werden müssen.

Hin und wieder nimmt man auch an Aktivitäten wie einem Kartenspiel teil. Auch dann stehen die Unterhaltungen aber im Vordergrund, nicht das durchaus unterhaltsame Minispiel.

Wer will, aktiviert übrigens vereinfachte, sprich leichter lesbare Schriftarten oder entscheidet sich für eine konsequente zeitgenössische Darstellung. Ihr wifft fchon: wenn aus Wasserspeiern Wafferfpeier werden. Es stecken so viele aufmerksame Details in Pentiment, dass es eine Freude ist, darin einzutauchen!

Ein Adventure, kein Rollenspiel

Man sollte es vielleicht nicht größer machen, als es ist: Das „narrative Adventure“, das zunächst aus einer Zusammenarbeit von Sawyer sowie Künstlerin Hannah Kennedy hervorging, und an dem nie mehr als gut ein Dutzend Entwickler am Stück gearbeitet haben, ist kein großes Rollenspiel, wie man es von einem Titel aus dem Hause Obsidian (The Outer Worlds) womöglich erwartet. Es ist auch kein Disco Elysium, bei dem man eine viel größere Freiheit hätte in der Art, wie man Andreas verkörpert und wie man seine Aufgaben löst.

Man wählt zu Beginn zwar, welche Ausbildung er genossen hat und wohin ihn frühere Reisen geführt haben, wodurch ihm je nach Charakterisierung zusätzliche Antwortmöglichkeiten zur Verfügung stehen - dass die nicht unbedingt besser sind und es manch Einem sogar auf den Senkel gehen kann, wenn er das Gesetz zitiert oder anderweitig betont gebildet auftritt, sind dabei sehr sinnvolle Nuancen. Im Großen und Ganzen verläuft die Detektivarbeit aber auf weitgehend vorgegebenen Pfaden.

Auch das Ausheben eines Grabs gehört zu den Ermittlungen, falls ihr euch entscheidet, dieser bestimmten Spur nachzugehen und eine dazu fähige Person zum Mitmachen überzeugen könnt.

Denn auch wenn man stets wählen kann, mit wem man sich wann unterhält, und obwohl man mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht sämtliche Indizien findet, da die Anzahl zentraler Beschäftigungen pro Tageszeit begrenzt ist: Unterm Strich sind die Handlungsmöglichkeiten dieser geführten Erzählung durchaus überschaubar. Man spricht nämlich nicht frei mit den Menschen, sondern immer nur dort, wo es vorgesehen ist. Das gilt auch für das Betreten der meisten Orte.

Tatsächlich war ich sogar enttäuscht, dass man eine ganz offensichtliche Spur überhaupt nicht verfolgen darf, weil dafür notwendige Interaktionspunkte gar nicht erst vorhanden sind. Und dann kann man ausgerechnet bei dem Treffen mit dem Erzdiakon nicht auf die einzige Art argumentieren, die mir logisch erschien, sondern wird fest dahin gelenkt, dass Andreas stur anfängt, die Verdächtigen aufzuzählen.

Den Großteil der Zeit über ist die Illusion der Gesprächsgestaltung allerdings überzeugend. Ich freue mich zudem, wenn Andreas in gedanklichen Selbstgesprächen manchmal überlegt, welche Antwort eigentlich die beste wäre – und sei es nur, weil es da unter anderem den folgenden Dialog gibt: „Denk am besten gar nicht erst darüber nach.“ „Jetzt denke ich doch aber schon darüber nach!“

Je nachdem, wie man sich gegenüber den Mitmenschen verhält, können sich spätere Situationen auf verschiedene Art entwickeln.

Meist geht es ja ohnehin nicht um das Verändern großer Schicksale, sondern darum, in welchem Tonfall man den Anderen begegnet. Hin und wieder merken die sich nämlich, wie man sie behandelt, und vor allem das wirkt sich im späteren Verlauf mal mehr, mal weniger stark aus. Die Wenigsten werden durch einzelne Extremsituationen zu Freunden, sondern weil man stets zu ihnen hält.

Es sind außerdem Gespräche, die auch spielerisch in die Welt eingebettet sind, da man bei den vielen Mahlzeiten zum Beispiel nicht die daran teilnehmenden Personen sieht, sondern den Tisch, auf dem die Teller stehen. Mehrmals wählt man dann, wovon man als nächstes abbeißt, sprich man nimmt aktiv am Essen teil. Und oft sind es eben solche Kleinigkeiten, die eine Welt interessant und greifbar machen.

Pentiment – Fazit

Das ist also Pentiment: ein edel gestaltetes, sorgfältig recherchiertes Porträt einer Zeit, in der gesellschaftliche Umwälzungen nicht nur die Politik, sondern vor allem die einfachen Leute betroffen haben. Und von diesen Leuten erzählt das Spiel. Als mehrmaliger Besucher einer Kleinstadt lernt man sie und ihre Sorgen kennen. Man beobachtet, wie sich ihr Leben verändert, gestaltet den Wandel zum Teil selbst mit, und gewinnt so Einblick in eine faszinierende Welt, die nicht nur aufgrund des erzählerischen Hintergrunds realer ist als die vieler anderer Spiele. So überschaubar die reine Detektivarbeit auch sein mag: Pentiment ist ein einzigartiges Stück spielbarer Geschichte!

Pentiment - Wertung: 9/10

Pros und Contras

Pro:

  • Vielschichtiges, sehr sorgfältig recherchiertes historisches Szenario
  • Stilvolle, quasi-zeitgenössische Präsentation
  • Spannende Detektivarbeit um interessantem Mordfall als Aufhänger, ...
  • ... aber im Vordergrund stehen immer Menschen und deren persönliche bzw. familiäre Sorgen
  • Sorgfältig aufbereitete Informationen mit hilfreichen Verlinkungen schon in Dialogfenstern
  • Alltägliches Tun wie das Essen bei Mahlzeiten ist aktiver Teil bei Unterhaltungen
  • Größere Entscheidungen führen zu dauerhaften, spürbaren Veränderungen...

Contras:

  • ... insgesamt aber relativ überschaubarer Handlungsspielraum bei Detektivarbeit
  • Hin und wieder stehen sinnvolle Dialogoptionen nicht zur Verfügung

Entwickler: Obsidian Entertainment - Publisher: Microsoft - Plattformen: PC, Xbox One, Xbox Series X/S- Release: 15.11.22 - Genre: Rollenspiel, Adventure - Preis (UVP): knapp 20 Euro

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