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Baldur's Gate 3, Fallout: New Vegas und die Totenstarre im Triple-A-Rollenspiel

Es kann nie genug Skillchecks geben.

Die herausgeputzten Welten riesiger Mainstream-RPGs, die Dragon Ages, Witchers und Skyrims, sie sind absolut fein, wenn man unter dem schicken Laubwerk keine Würfelprobe auf Naturverbundenheit erwartet. Ich hatte und werde noch viele Stunden Spaß mit ihnen haben, dem geradlinigen Aufrüsten und Verzaubern, +2,75% mehr Schaden, 3/4 Scherben und 4/5 Monsternestern. Ich freue mich auf Starfield nächsten Monat. Lydia gefällt das auch.

Baldur's Gate 3 geht weit darüber hinaus. Es ist gleichzeitig ein Spiel über Leute, die sich bombastisch animiert in Tiere verwandeln, wie eines über Tabellen, Modifikatoren, Attributpunkte und Elixiere der Hügelriesenstärke. Die Mischung von Schau- und Zahlenwerten ist nicht neu. Man denke an das erste Dragon Age und die (vor 14 Jahren) verdiente 10/10. Keine Beanstandung bei einem "Im-Prinzip-Baldur's-Gate-3", als es seinerzeit ein bisschen unbeholfen in Biowares Sammel-deine-Verbündeten-Muster, meist aber sehr kompetent sogar auf PS3 und Xbox 360 rumpelte. Das ist eine halbe Ewigkeit her. Im Vergleich kriegt das "In-echt-Baldur's-Gate-3" nach 30 Stunden eine 12/Brot. Ich habe eine Weile im zweiten Gebiet verbracht und keine Ahnung, wie lange es bis zur großen Stadt dauert. Ich liebe es.

Schon das erste Gebiet ist so dicht gefüllt mit einfach allem, dass es ein wahres Fest ist.

Kitschig gesagt könnte man ihm den Rettungswurf für ein Genre aufzwingen, das erst ab einem bestimmten Produktionswert gerettet (man könnte noch weiter gehen und sagen: überhaupt etabliert) werden müsste. Komplexe, wertegetriebene RPGs in PnP-artiger Aufmachung wurden mit Namen wie Age of Decadence, Underrail, den letzten Shadowrun-Spielen, Wasteland, Divinity oder - natürlich - Disco Elysium unter Ausschluss der großen Öffentlichkeit bestens bedient.

Baldur's Gate 3 zersticht diese Blase mit bombastischen Spielerzahlen und inhaltlich so brillant, wie es höchstens Fallout: New Vegas schaffte. FNV war als einzigem Nicht-Indie-Rollenspiel seit der Ära PS360 daran gelegen, Charakterwerte und Handlungsoptionen ins Fundament einer detailliert ausfüllbaren Rolle einzugießen, ohne dass es aussah wie zehn Jahre zu spät veröffentlicht.

Ein Sanitäter darin erlangt nicht nur 10% mehr Heilwirkung wie eine Videospielfigur, sondern eine Expertise im sozialen Umgang, wenn sie sein Fach betrifft. Genauso wie ein Psychopath nicht nur im Töten mit dem Golfschläger glänzt, sondern auch Gesprächspartner übel verstören und damit Probleme einfach wegpsychopathisieren kann. Ihr kennt das kampflose Ende von Fallout 1, bei dem man dem Mutantenmeister verklickert, dass sein Plan nicht so durchdacht ist, wie er glaubt? Larian kennt es auf jeden Fall und machte mit Baldur's Gate 3 ein ganzes Spiel daraus.

Ich liebe das Springen und die Vertikalität der Welt. Schwere Knochenbrüche bei der Landung sind nicht ausgeschlossen, aber immerhin geht es ohne Fallenentschärfer an diesen Wolken vobei. Manche Wege über Dächer und Co. erinnern fast an eine Immersive-Sim.

Seine Erscheinung rangiert deutlich oberhalb der Double-A-Liga und präsentiert einen absurden Detailreichtum für ein breit aufgestelltes RPG traditioneller Fertigung. Es liebt seine Stats und Völker und Klassen und Hintergründe wie auch die Klassiker von Melfs Säurepfeil bis zum Schmierzauber. Mit vielen Variablen und ebenso vielen gesetzten Größen gelingt ihm eine umwerfende Fülle charakterabhängiger Interaktion. Ich habe lange überlegt, ob es das in diesem Format schon einmal gab (Vampire Bloodlines in Ansätzen oder ein paar frühere Obsidian-Spiele wie KotOR 2?), aber nein. Im direkten Vergleich wirkt Dragon Age: Origins fast wie ein anderes Genre. Haltet Dragen Age 2 daneben und… na gut, jetzt wird es albern.

Das Einwirken auf die Welt, wie sie jeder Charakterkonstellation Schlupflöcher für einen und noch einen Skillcheck lässt und keine zugeschlagenen Türen scheut, ist beispiellos. Wer schon mal gleichzeitig die Gehaltslisten der Dunklen Bruderschaft, der Diebesgilde und der Kaiserlichen Legion anführte, war vielleicht froh, es mit Blick auf seine Platintrophäe schnell hinter sich zu haben. Aber die Auffassung einer Rollenfindung mit anfallenden Konsequenzen sieht anders aus.

Kein CRPG ohne aus allen Nähten platzendes Inventar.

Die große Erzählung von einem abgestürzten Illithiden-Schiff voller verschleppter Insassen und ins Hirn gepflanzter Parasiten mag immer ähnlich verlaufen (vermute ich, bin aber gerade erst in Liurnia angekommen). Es ist nun mal die von Larian erzählte Geschichte, wofür sich das Studio mit vollen Händen aus einem Jahrzehnte überspannenden DnD-Weltenbild bedient. Wahnsinn, wer und was hier alles einen Platz findet: einiges nur als Randerwähnung, anderes ein stundenlanges Thema in Anknüpfung an die Hauptgeschichte.

Und immerhin wirft die Body-Horror-Schiene interessante Fragen auf, besonders mit Blick auf die Versprechen diverser Figuren im ersten Akt, den Parasiten entfernen zu können. Wieso sollte man das wollen angesichts der vielen zusätzlichen Illithiden-Würfelproben? Kann man später selbst zum Mind-Flayer mutieren und wenn ja, wie cool wäre das bitte? Junge, ich freue mich auf die Ankunft in der großen Stadt. Eine weitere Parallele zu FNV, das seinen Hauptschauplatz im Titel trägt, ihn aber in weite Ferne rückt, ohne Erforderlichkeit oder Zwang, mehr als Einladung.

Baldur's Gate muss als Location nicht nur gegen isometrische Verklärung und polygonales Novigrad bestehen, sondern auch gegen Abnutzung. Spiele neigen zu Musterbildung, oft viel zu früh, erst recht die langen und ihre großen Welten. Man muss nicht mal Preston Garvey als abschreckendes, an Verweigerung grenzendes Beispiel aus dem Hut ziehen. Auch Elden Ring hatte dreieinhalb Wachhunde in der fünften Katakombe zu viel.

Larian meidet Füllmaterial (bislang jedenfalls) und behandelt jeden Dialog, jede Charakterinteraktion gleichwertig, nämlich so, als wollte dir Commander Shepard wütend auf die Fresse hauen. Alles ist wenigstens nach Mindestmaß inszeniert: das Aufheben eines speziellen Buches, Begleiterdialoge ohnehin, Begegnungen am Wegrand. Die protzigen 170 Stunden Zwischensequenzen müssen ihren Platz finden. Schon das Entdecken und Untersuchen der Umgebung zeigt, wo große Teile davon geblieben sind.

In einer Zeit freigiebig verschleuderter RPG-Schärpen für Assassin's Creed, God of War oder Hogwarts, weil es ja Zahlenwerte und Upgrades gibt, ist das die größte Errungenschaft. Wir Gamer lieben unsere Legenden und ihre Vermächtnisse: Origin, Ultima, Black Isle, Fallout, Troika, Arcanum, Obsidian, Alpha Protocol, InXile, Bard's Tale. Der Platz daneben gehört nun Larian als neuer Go-to-Manufaktur für trittfeste und sehr biegsame Roller. Damit die so schnell nicht brechen, spielt Baldur's Gate 3 jetzt oder in drei Wochen auf PS5 und erzählt es jedem Hund. Ein Satz, von dem ich nicht dachte, ihn irgendwann einmal loszuwerden.

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