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Cyberpunk 2077 - Und, wann fiel euch das letzte Mal die Kinnlade runter?

Ich muss da schon ein wenig zurückgehen...

Ich musste jetzt mal wirklich lange zurückdenken. Wann ist mir zuletzt in einer Präsentation die Kinnlade runtergefallen? VR-Zeugs? Sicher nicht. Skyrim? Meh. Witcher 3? Nicht so. Deus Ex: Human Revolution? Nein. Doom, das erste, 1994? Ja, okay, ich muss wohl soweit zurückgehen und da sind natürlich ein paar Einschränkungen dabei: Ich war ein Vierteljahrhundert jünger, fünfzig Mal leichter zu beeindrucken und vor allem, ich konnte es wirklich spielen. Es war nicht nur eine Stunde Show and Tell. Aber meine Fresse, war das eine Stunde letzte Woche. Kein Wunder, dass jeder CD Projekt die Bude einrannte. Jeder fand hier, was er suchte.

Egal, ob es der Technik-Blast war, den sie wollten, oder das nächste große Rollenspiel oder einfach nur dabei sein und die blöde Plastikstatue nach der Show mitnehmen, sie fanden es hier. Was ich für meinen Teil fand, war all das, aber noch mehr. Es war das konsequenteste Stück Retro, das mir je vorgesetzt wurde, einfach, weil es auf der einen Seite ein so modernes Spiel war, dass es aktuell so noch gar nicht existieren kann - und auf der anderen Seite all die richtige Synapsen befeuerte, die vor so langer Zeit in so vielen Pen-&-Paper-Sessions mit Shadowrun und auch etwas Cyberpunk geschärft wurden. Es war, als würden diese Cover und mickrigen Illustrationen, die wir mit 16 so intensiv studierten, in einer Supernova aus Licht und Sound zum Leben erweckt. Als hätte CD Projekt eine Tür in die Zukunft aufgestoßen, die mal war, und bäte einen nun, hindurchzutreten. Das war so nah, wie man heutzutage in der zynischen Alltagsroutine des Gaming-Journalismus einem Erweckungserlebnis kommt.

Alles war richtig. Jeder Frame eine in Bewegung fließende Fantasie von vor Äonen. Es mag seltsam sein, aber mein Moment war ausgerechnet die kurze Fahrzeugkampfsequenz. Unser Mini-Runner-Team in etwas, das an einen futuristischen DeLorean erinnert, der seine Zukunft schon wieder hinter sich hat. Einfach pure Retro-Lust, verpackt in den Widerspruch einer zeitlosen Momentaufnahme von Zeitgeist. Ich interpretiere da vielleicht ein wenig was rein. Vor uns die Bösen, die die Tür ihres Near-Future-T5 aufreißen und mit Waffen das Feuer eröffnen, die die Wucht gepflegter Effizienz verbreiten. Das sind keine verspielten Destiny-Waffen, die schön sein sollen, das hier ist das AR-15 nach ein paar Jahrzehnten marktgetriebener Optimierung. Konfigurierbar, leicht zu handhaben und am Ende des Tages darauf ausgelegt, ein Projektil ohne Wenn und Aber in direkter Linie dahin zu befördern, wo man es haben möchte. All das klingt aus den paar Sekunden dieses Feuergefechts bei 80 Sachen. Die Neonlichter eines schönen Morgens ziehen zwischen den beiden Kontrahenten hindurch, während die ebenso harten wie präzisen Bewegungen der Wagen im Takt der Kugeln rucken. Es sind zwei intensive Minuten aus einem Abschnitt, der kaum einen anderen Zustand kennt. Das ist das, was wir uns vorstellten, wie Shadowrun oder Cyberpunk auf der Straße auszusehen haben. Exakt so. Nicht ungefähr, nicht in die Richtung. Exakt. So. Jeder einzelne Frame.

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Solltet ihr es noch nicht getan haben - unwahrscheinlich, ich weiß -, dann schaut euch jetzt das Gameplay-Video an. In Gänze. Vom ersten Schritt auf die Straße bis zur Rückkehr in die Schatten nach erfolgtem Run. Verzeiht mir das Vokabular, ein halbes Jahrzehnt oder mehr an Shadowrun kriegt man nicht so einfach raus. In diesem mit dem Selbstvertrauen eines T-Rex vorgespielten Abschnitts dominiert die Intensität einzelner Szenen und erzählt die kurze Geschichte auf eine dramaturgisch durchgestylte Art, wie es Witcher und auch sonst kaum ein Spiel selbst in ihren besten Momenten nicht vermochten. Und ja, ich glaube CD Projekt, dass man das auf diese Weise spielen kann. Die Wechsel zwischen Shootout und Dialog, zwischen Straße und Hochhaus-"Dungeon", all das läuft ausgesprochen natürlich und konventionell ab. Ich frage mich jedoch, wie ich diese Szenen gespielt hätte, hätte man uns denn an den Controller gelassen. Wie viel von der durchexerzierten Dramaturgie geht verloren, wenn man als Spieler auch mal links und rechts die falsche Tür nimmt, in einem Menü rumfuhrwerkt und vielleicht sogar neu laden muss, weil man aus Versehen - oder aus Größenwahnsinn - auch das DocWagon-Team unter Feuer nahm. Egal, diese Gedanken zu haben, ist ja schon fast ein Tribut an die Perfektion der Inszenierung.

Und war es das am Ende nur? Eine Inszenierung? Witcher 3 Alpha, 2.0? Ja, vielleicht. Vielleicht müssen sie auch noch mal Teile der Engine umwerfen und das fertige Produkt sieht dann etwas anders aus. Na und? Ich denke, dass sich das Team mit der nachhaltigen Pflege und den Patches ihrer vorigen Spiele genug Vertrauen erarbeitet hat, um jetzt hier nicht in "Am Ende wird das eh nicht so toll"-Pessimismus zu verfallen. Lasst euch vielleicht besser nicht von meiner kompletten Euphorie anstecken, macht euch eure eigenen Gedanken. Was ich hier gesehen habe, habe ich so vorher noch nicht gesehen. Wie gesagt, meine Kinnlade war unten. Das erste Mal seit laaanger Zeit.

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Was auch sofort wieder auffiel, war die filmreife Glaubwürdigkeit der Dialoge - obwohl ich damit vielen Filmen zu viel der Ehre erweise. Warum kann CD Projekt solch authentische Dialoge schreiben und andere Riesenteams mit teilweise sicher noch mehr Budget nur an jedem zweiten Sonntag? Aus diesen Gesprächen, nehmt als Beispiel die Verhandlungen mit der Corporate-Lady, entsteht unglaubliche Intensität, die sich in die Szenen trägt und Dringlichkeit vermittelt. Die Verhandlungen mit den Cyber-Freaks waren nicht nur das übliche Setpiece, es waren kollidierende Agenden, die in den Zeilen tanzten, um in einem perfekten Pen-&_Paper-Moment zu kumulieren. "Hey, wir haben alles, was wir brauchen. Jetzt knallen wir noch alle ab und nehmen die Kohle mit." Hätte direkt von meinem Tisch kommen können.

Der Rest blieb damals unserer Phantasie vorbehalten. Der Implantats-Tisch des Straßen-Docs, der Look der Cyberware, die Werbung einer Stadt, die nicht nur Nacht kennt, aber scheinbar dauernd in den Schatten liegt, ihre eigentümlichen Bewohner, deren Look das extrovertierte des damals noch undenkbaren Social-Media-Egos direkt auf die Netzhaut transportiert. Es kann sein, dass da jemand sagt "Ich habe mir das anders vorgestellt". Und wer bin ich, dass ich da widersprechen würde? Ich kann nur sagen, dass ich mir das genau so vorgestellt habe. Bis in den letzten Pixel.

Ich spüre irgendwie, dass das ein Spiel sein wird, über das ich noch sehr viel sagen werde, an dem ich viele Details analysieren werde, über die es sich in einer frühen Präsentation noch nicht so sehr zu sprechen lohnt. Was an Systemen dahintersteckt, wie diese sich in die angestrebte Immersion einfügen oder auch nicht, all das kommt noch. Auch, ob diese hier gezeigte Vision nur das ist: eine Vision. Oder ob es wirklich ein Ausschnitt aus einem lebenden, atmenden Spiel ist. Vielleicht reden wir dann auch über Dinge wie Transhumanismus und wie dumm sich Rassisten fühlen dürften, wenn es nicht mehr um schwarz und weiß geht, sondern ob der andere zu 80 Prozent Maschine ist. Das oder Genderfragen, die wir uns vor 30 Jahren nicht stellten, weil es egal war, als was man spielte, Hauptsache, die Bewaffnung stimmte. Wir waren damals am Spieltisch scheinbar auf eine Welt vorbereitet, in der solche Dinge passé sind und Megakonzerne uns alle unterjochen. Mit Chemnitz, Trump und anderen Phänomenen der Gegenwart wünscht man sich fast in die Dystopie der Zukunft zurück, die einmal vor langer Zeit war. Und ganz ehrlich, mein Eindruck ist, dass Cyberpunk dieser Retro-Zukunft verschrieben ist, so wie sie optimistisch vor 30 Jahren als neongetränkter Niedergang entworfen wurde.

In diesem artikel

Cyberpunk 2077

PS4, PS5, Xbox One, Xbox Series X/S, PC

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Martin Woger Avatar

Martin Woger

Chefredakteur

Chefredakteur seit 2011, Gamer seit 1984, Mensch seit 1975, mag PC-Engines und alles sonst, was nicht FIFA oder RTS heißt.
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