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Pro Evolution Soccer 6

Schnipp, Schnapp!

Eine Kritik zum jährlichen Sportspielupdate zu schreiben, ist eine teils undankbare Aufgabe: Spielprinzip und Charaktere sind bekannt, jeder weiß, wie man Fußball spielt – ok, zumindest virtuell -, und die interessante Hintergrundgeschichte von der man künden könnte, hat Sönke Wortmann bereits in seinem Sommermärchen erzählt. Oft wird hier nur die Grafik etwas gepudert, da ein wenig Lizenz-Rouge aufgetragen und Physik und KI-Routinen gestrafft. Kleine, für sich genommen wenig aufregende Eingriffe.

Passt man nicht auf, hat man zum 28. Mal das Offensichtliche erzählt und einen beträchtlichen Teil seiner Leserschaft in seligen Tiefschlaf versetzt. Der „Fall“ PES steht glücklicher Weise etwas anders. Diese „kleinen“ kosmetischen Handgriffe verleihen dem Vorzeigefußball regelmäßig zwar nicht unbedingt ein neues Gesicht, aber stets ein ganz anderes Wesen. Wo ich vor zwei Monaten in meiner Vorschau anhand der japanischen Fassung von Winning Eleven 10 noch ein offensiveres, flotteres PES 6 im Anmarsch wähnte, sehe ich mich nun eines Besseren belehrt. PES 6 auf der Xbox 360 hat den arcadigen Einschlag des Zehners in Nippon gelassen und setzt dem ohnehin schon anspruchsvollen fünften Teil noch eins drauf. Bevor man dies allerdings feststellen kann, hat man einige Verluste zu beklagen.

In eigener Sache

Chelsea ist in dieser Form übrigens ebenfalls nicht im Spiel enthalten.

Die Hobby-Psychologen unter Euch werden mir jetzt sicher eine „Quarter-Life-Crisis“ oder das „Früher-war-alles-besser“-Syndrom attestieren. Denn ich assoziiere mit der aktuell „nächsten“ Konsolengeneration eine ganze Reihe weniger erfreuliche Dinge, als da wären: Passiv-aggressiver HDTV-Zwang, Röhren-TV-Siechtum, Micropayment-Overkill, alles versehrender System-Weltkrieg und – eher banal – im Umfang derbe abgespeckte Umsetzungen beliebter Spieleserien. Letztere hatte man nach ihren 2006er Debüts auf Microsofts neuer Wunderkiste schon fast wieder vergessen…

Beschneidet ein Entwickler den Umfang eines seiner Titel, hat das oft nur wenig mit purer Bosheit zu tun. Meist sind derartige Schnitte schlicht und ergreifend auf akuten Zeitmangel zurückzuführen. Also werden schon in der Konzeptphase Prioritäten gesetzt und Kompromisse eingegangen. Im Laufe der Entstehung passt man dann Features an die neue Hardware an, klärt offene Technikfragen und beginnt, bei Terminnot Teile der ursprünglichen Variante ersatzlos zu streichen. Ihr ahnt es bereits: Auch die Geschichte des ersten PES für die Xbox 360 ist eine mit dem Rotstift geschriebene.

Ja gut, äh…

Die Liste der Kollateralschäden der Portierung ist lang: Es fehlen die individuellen Spielerstatistiken, die spielinterne Goodie-Bude namens „PES Shop“ hat die Pforten geschlossen, Replays können nicht mehr abgespeichert werden, Online-Partien laufen nur noch für zwei Mitspieler. Der Editiermodus unterlag einer Vollkastration (Spieler lassen sich zwar in ihren Werten verändern, aber nicht neu erstellen oder transferieren), und noch schlimmer: Mit Ausnahme unseres Rekordmeisters wurde die ganze Bundesliga ersatzlos gestrichen. Die Tatsache, dass es statt der 36 ursprünglichen Stadien nur acht in die nächste Generation geschafft haben, kann einen da schon fast nicht mehr schocken, oder?

Gut, das wir das hinter uns gebracht haben, denn ansonsten ist alles beim Alten. Ich habe zwar nicht vor, deshalb diese Punkte im Einzelnen zu relativieren. Dennoch muss ich einfach erwähnen, dass es für jedes Feature, dass unter der Termin-Guillotine Platz nehmen musste, eines gibt, das verbessert wurde.

Sport = ?

Am auffälligsten natürlich die nun komplett flimmerfreie HD-Grafik, die fast immer butterweich über den 16:9 Rasen scrollt. Zwar basiert auch PES 6 für die Xbox 360 noch immer auf der altgedienten PES-Engine, gerade das neue Breitbild-Format sorgt aber für ein echtes Plus an Übersicht und Spielbarkeit - das wurde langsam Zeit. Die Spielergesichter, das animierte Polygon-Publikum und vor allem der Shader-Rasen sind besonders gelungen und unterstreichen, dass es sich hierbei nicht um einen simplen Port der PC-Version handelt.

Und noch etwas muss man der nüchternen, aber eleganten Optik zugestehen: Die abermals überarbeitete Kollisionsabfrage wird durch die gestochen scharfen Spielermodelle noch betont. Diesmal merkt man nicht nur anhand der Flugbahn des Balles, ob noch ein gegnerischer Fuß das Leder touchierte – nun sieht man, dass es passiert.

Terrier

Die PES 6-Kicker sind in Sachen Spielintelligenz konkurrenzlos.

Da wir vorhin bereits von Guillotinen sprachen: Eine kleine Revolution gibt es bei der KI zu vermelden. Diese spielt bei PES zwar schon ewig und drei Tage alles andere als kopflos, vermag es diesmal aber, wirklich zu verblüffen. Mit der Hartnäckigkeit eines menschlichen Gegenspielers, übt die CPU einen beispiellosen Druck auf den ballführenden Spieler aus. Bedrängt ihn, wo sie nur kann und wählt stets den optimalen Weg zur Kirsche. Diese Philosophie setzt sich im Angriff fort: Derart überraschendes, kreatives und spontanes Aufbauspiel demonstrierten die digitalen Gegenspieler noch in keinem PES – geschweige denn, in irgendeinem vergleichbaren Spiel. Hier werden Flanken aus „mutigen“ Winkeln geschlagen, hohe Bälle aus allen Lagen in den Lauf gespielt und bei Bedarf der Ball gehalten, bis die Kameraden nachgerückt sind. Mir fehlen die Worte.

Wie jedes Jahr vergehen natürlich wieder einmal einige Stunden, bevor man sich mit der neuen Marschroute vertraut gemacht hat und auch nur ansatzweise in der gewohnten Souveränität aufspielen kann. Denn die alten Taktiken zählen nicht mehr. Der automatische Sidestep ist Geschichte, die Spieler drehen sich deutlich langsamer und die maximale Endgeschwindigkeit erreichen die meisten Athleten nur durch schnelles Triggern der Sprint-Taste. Insgesamt fühlt sich das Handling Stars und Sternchen auf dem Rasen einfach deutlich anders an. Erfolgreiche Dribblings verlangen mehr von Euch als jemals zuvor. Ein Laufduell entscheidet sich nicht mehr auf den letzten Metern, sondern schon bei der Ballannahme. Diese sollte nun mittels der rechten Bumper und Trigger, sowie der Richtungstasten gefühlvoll dosiert werden - will man die Pille nicht augenblicklich an der Pieke des Gegners kleben sehen. Auch der gezielte Schuss mit dem Innenrist per rechtem Trigger ist nun eher Pflichtprogramm als Kür. Ein Faktor, an den man sich erst gewöhnen muss.

Die Physis der Spieler spielt nun eine größere Rolle. Alle, außer den kräftigsten Spielern, sollten auf eine zu enge Tuchfühlung mit ihrem Bewacher verzichten. Tempo, Timing und Ballbehandlung leiden Todesqualen unter allzu aufdringlichem Körperkontakt. Das Schiedsrichtergespann, das diesmal vollzählig jederzeit auf dem Feld (bzw. an dessen Rand) sichtbar ist, hat glücklicherweise endlich begriffen, dass man hier kein „C-Jugend, weiblich“-Spiel austrägt und verzichtet darauf, für kleinste Nicklichkeiten Freistöße zu verschenken.

Live-Fußball

Mal was Neues: Tschechien im Glück.

In der Vergangenheit hat sich Konami nicht gerade mit Ruhm bekleckert, wenn es um die Xbox Live Unterstützung von PES ging. Und auch diesmal ist zunächst Skepsis angesagt. Hat man es erstmal geschafft einem Spiel beizutreten, scheint alles in Butter. Die Lag-artige Verzögerung, die weite Teile der Online-Erfahrung von PES 5 zu einer echten Nervenprobe geraten ließ, ist nun endlich dort wo der Pfeffer wächst – mein Beileid, Indien! Allerdings ist die Spielvermittlung mal wieder extrem holprig geraten und die Standardsituationen erneut eine sehr nervöse und ruckelige Angelegenheit. Natürlich ist es noch zu früh, die Online-Qualitäten abschließend zu bewerten. Gut möglich, dass Konami in den kommenden Tagen und Wochen den Netzcode überarbeitet. Wir halten Euch auf dem Laufenden!

PES 6 holt zu Anfang selbst erhabenste Pro Evo-Künstler auf den Boden der Tatsachen zurück und reibt einem den Begriff des Spielrealismus fett, kursiv und in Großbuchstaben ins Gesicht. Eingefleischte Fußballfeldherren werden es ebenso vergöttern wie jene, die die PES 5-CPU auf dem höchsten Schwierigkeitsgrad mit nur einer Hand aus dem Stadion schießen. Der Rest wird vom mittleren Schwierigkeitsgrad aufwärts eine böse Überraschung erleben. Nichtsdestotrotz ziehe ich erneut meinen Hut vor dem tokioter Programmierteam. In diesem Zusammenhang ist es zwar eine sehr strapazierte Phrase, aber: Das IST – jetzt aber wirklich – Fußball.

Ansonsten findet hier jeder, mit dem magereren Umfang und der Katastrophe von einem Steuerkreuz (die das schöne Xbox 360-Joypad verschandelt) leben kann, ein Spiel, das ihn bis weit durch den Winter begleiten wird.

Einen Nachtest zur PS2-Version findet ihr in Kürze ebenfalls hier.

8 / 10

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